Zwischen Widerstand und Kollaboration

Roman Der bulgarische Schriftsteller Vladimir Zarev erzählt vom Verhängnis einer Familie im 20. Jahrhundert

Am Anfang steht die Erbsünde. Als Assen Weltschev mit 66 Jahren stirbt, nimmt er ein „blutiges Geheimnis“ mit ins Grab. Seine Söhne wissen nicht, welches Verbrechen ihr Vater als junger Mann begangen hat, doch auch sie werden im Laufe ihres Lebens Schuld auf sich laden. Assens Witwe glaubt, sie sei verantwortlich für das Verhängnis der Familie Weltschev. Sie steckt ihrem sterbenden Gatten im Glauben, er halte sie zum Narren, statt einer Kerze eine Lauchstange zwischen die gefalteten Hände. Eine Blasphemie, so ist sie überzeugt, die sich rächen wird.

Assen Weltschev, „ein großer harter Mann mit einem harten Leben und einer harten Hand“, stirbt 1895 in dem an der Donau gelegenen Städtchen Widin. Die Geschichte seiner Nachkommen erzählt der 1947 geborene bulgarische Schriftsteller Vladimir Zarev, der hiesigen Lesern vor zwei Jahren durch seinen Roman Verfall bekannt wurde. Der erste Band seiner großen Familientrilogie, bereits 1978 im Original erschienen, liegt nun in deutscher Übersetzung vor (hier ein Kapitel aus dem noch nicht vollständig übersetzten dritten Band).

Gefühl des Abscheus

Ein halbes Jahrhundert lang nehmen wir Anteil an den Geschicken der Familie, und das ist leichter gesagt als getan. Denn die Kinder des alten Assen sind nicht unbedingt Sympathieträger. Jordan, der älteste Sohn, verfolgt fanatisch ein Bauprojekt und geht über Leichen, um seine Pläne zu verwirklichen. Sein jüngster Bruder Ilija bestiehlt ihn. Panto, der Zweitgeborene, ist durch Heirat reich geworden, weiß aber mit seiner Existenz wenig anzufangen. Allein dem intellektuellen Christo, revolutionäre Gedanken hegend, und der einzigen Schwester Jonka nähert man sich ohne ein leichtes Gefühl des Abscheus.

Gleichzeitig aber handelt es sich um faszinierende Figuren, die ihren Antrieb ganz aus sich selbst zu schöpfen scheinen. Zarev lässt uns an ihren finsteren Gefühlen teilhaben, verweigert uns aber eine Erklärung. Wir erfahren nicht, warum das Geld Ilija so magisch anzieht, was Jordan bewegt, unbedingt einen großen Gasthof bauen zu wollen und woher Pantos Lethargie rührt. Indem er diese Figuren und ihre provinzielle Umgebung den gewalttätigen Zeitläuften des beginnenden 20. Jahrhunderts aussetzt, erzeugt Vladimir Zarev eine Spannung, die den ersten Teil des Romans dominiert. Man kann dieses große Buch indes nicht auf seinen Plot reduzieren. Vladimir Zarevs Prosa definiert sich durch ihre Sprache, durch „wundersame Sätze“, wie sein Schriftstellerkollege Dimitré Dinev lobt. Mal üppig und bilderreich, mal karg und lakonisch, manchmal von Ironie getränkt: Zarev zieht alle sprachlichen Register und sein Übersetzer Thomas Frahm tut es ihm nach.

In diesen Figuren brodelt es

Im zweiten Teil des Romans steht eine neue Generation im Mittelpunkt. Ort der Handlung ist nun nicht mehr die Provinz, sondern die Hauptstadt Sofia. Neben Georgi, der das von seinem Schwiegervater geerbte renommierte Café Bulgaria ruiniert, sind das Ilijas Sprössling Boshidar, ein aufstrebender Offizier, und Jordans Sohn Assen, der sich einer Gruppe von Partisanen angeschlossen hat. Es ist die Zeit des zweiten Weltkriegs und Bulgarien ist mit Nazideutschland verbündet. Während Assen politische Morde begeht, verstrickt sich Boshidar in die Umsturzpläne einiger Militärs und reibt sich in einer von Hassliebe geprägten Beziehung zu einer dekadenten Millionärstochter auf. Das Erbe der Weltschevs ist lebendig und es führt zu nichts Gutem. Unterstützt von der Roten Armee, werden die alten Ausbeutungsverhältnisse hinweggefegt. „Die Menge sang ein ihr unbekanntes Lied, heftig und elektrisierend wie Kindergeschrei“, lautet einer der letzten Sätze.

Hätte man nicht eine Geschichte gelesen, die das Vertrauen in die positiven Kräfte der Menschen zu erschüttern imstande ist, könnte man an den Aufbruch in eine neue, bessere Zeit glauben. So aber hält man es lieber mit der alten Jonka, die sich fragt, wie man das Leben bloß in ein altes und in ein neues einteilen kann. Und sympathisiert mit dem hinter Bücherstapeln verschanzten Professor der Rechte, der mit dem milden Zynismus des Anti-Utopisten erklärt: „Der Mensch aber, lieber Herr Weltschev, möchte die Natur – seine Natur! – austricksen, sucht Gleichheit und Glück. Aber ich frage Sie: Kann man das Glück zur Menschenpflicht erklären? Und verstehen auch nur zwei Menschen, Sie und ich zum Beispiel, dasselbe unter Gleichheit?“

Eine epische Tour de Force

Wer leichtverdauliches Lesefutter sucht, wird mit Familienbrand kein großes Vergnügen haben. Zum einen fehlt es an richtigen Identifikationsfiguren, zum anderen gefällt es dem Erzähler, seine Leser gelegentlich im Dunkeln tappen zu lassen. Manch ein Handlungszusammenhang klärt sich erst etliche Seiten später auf, anderes bleibt ungesagt. Belohnt wird dennoch, wer sich auf den Roman einlässt, und zwar mit einer epischen Tour de Force, die in der zeitgenössischen Literatur ihresgleichen sucht. Denn trotz seines provinziellen Schauplatzes hat Familienbrand nichts Gemächliches. In diesen Figuren brodelt es. Sie sind Getriebene, denen ihre Welt zu klein ist. Doch entkommen können sie ihr nicht.

Familienbrand Vladimir Zarev, aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm, Deuticke, Wien 2009, 783 S., 25,90

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