Auf dem linken Auge blind

Replik Die Piraten als Resultat postpolitischen Denkens? Der Pirat Joachim Paul widerspricht Katja Kipping: Links-Rechts sei überholt, es gehe um neue globale Machtverhältnisse
Wohin blicken die Piraten? Nach links?
Wohin blicken die Piraten? Nach links?

Foto: Imago / IPON

Es wäre viel zu einfach, Katja Kipping mit ihrem allzu verfrühten Abgesang "Abschied voller Bedauern" auf die Piraten das Vergießen von Krokodilstränen zu unterstellen. Ich bin geneigt, eine Ernsthaftigkeit ihrer Argumentation sowie ihrer Emotionen anzuerkennen. Die Umstände jedoch sind ungleich komplizierter, denn die Ausführungen Kippings offenbaren – wohl eher unfreiwillig – das Ausmaß der Krise unserer Demokratie. Als ein wesentliches Element dieser Krise kann die althergebrachte parteipolitische Argumentationslogik ausgemacht werden, der bedauerlicherweise auch Kipping in ihrem Text zum Opfer fällt.

Sie spricht zwar mit Anerkenntnis und einem Quäntchen Bewunderung von piratigen Aktionen und Plakatstilen, jedoch sind genau diese in ihrem Kern ein Ausdruck einer völlig anderen Auffassung von Politik. Schon der Gründungsakt der Piraten im Jahr 2006 stellte einen ersten Versuch des Ausbruchs aus dem klassischen politischen Denken dar.

Zur Zeit scheint aber das piratige Narrativ, hier einmal verkürzt umschrieben als "demokratisches Netzwerk unter stark veränderten medialen und technischen Randbedingungen", nicht auszureichen, um über die natürlichen Schwierigkeiten einer so jungen Partei hinwegzuretten. Die Idee droht zwischen klassischem Polit-Denken auf der einen und den Kaperversuchen der politischen Konkurrenz auf der anderen Seite verwässert oder verschüttet zu werden, noch bevor sie ganz ausgearbeitet ist: Die Netzidee ist sowohl Opfer der Vereinfachung der Argumente in Krisenzeiten als auch der Beharrungskräfte und der Trägheit herrschender Strukturen.

Links-Rechts-Koordinatensystem?

Eine neue Idee braucht etwas, das unsere bis zum Zerreißen angespannte und durch das weltumspannende Datennetz beschleunigte Weltlage nicht so recht liefern kann und will: Zeit. Führen wir uns vor Augen, was diese veränderten Randbedingungen alles beinhalten: Die alten Strukturen aus der Industriegesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zerfallen. Um sich das klar zu machen, muss man nicht nach Detroit fahren, es reicht ein Besuch in Offenbach oder in Marl. Desweiteren sind wir schon mitten im Umbruch zur Informations- und Wissensgesellschaft. Vom Zerfall betroffen ist aber auch das alte, noch aus den Zeiten der Industrialisierung stammende eindimensionale politische Links-Rechts-Koordinatensystem.

Das Links-Rechts-Schema war über eine lange Zeit als politische Orientierungshilfe erfolgreich und ist deshalb immer noch sehr wirkmächtig. Es hält viele in einer Denkklammer gefangen. Auch unsere Partei bildet da keine Ausnahme. Hier gibt es ebenfalls Strömungen verschiedener Couleur: Linksliberal, sozialliberal, libertär – die Adjektive sind wenig mehr als behelfsmäßige Krücken. Der bisherige, Orientierung liefernde eindimensionale politische Kompass ist bereits zerbrochen. Dennoch wird immer wieder die behelfsmäßige Einordnung versucht, auch von Piraten: Ich bin abc oder xyz, aber...

Kipping schreibt: "Diese Überzeugung, man sei weder links noch rechts, ist typisch für den postdemokratischen Zeitgeist." In diesem Satz sträubt sich das klassische linkspolitische Bewusstsein gegen die Erkenntnis, dass die alte dogmatische Entweder-Oder-Strategie des politischen Argumentierens kein wärmendes Sowohl-als-Auch kennt und schon gar nicht ein Möglichkeiten eröffnendes Weder-Noch. Im Gegenteil, ein weiteres Folgen dieser politischen Argumentationslogik läuft Gefahr – zugegeben: unfreiwillig – zum zusätzlichen Steigbügelhalter einer neoliberalen Welt zu werden. Einer Welt, die selbst um die alten Vorstellungen neoliberaler Marktregulierungen entkernt ist.

"Überall ringen – gespenstisch – die Nichtlösungen von gestern mit den Nichtlösungen von vorgestern um die Bewältigung einer ganz und gar aus dem Rahmen schlagenden Zukunft", schrieb der Soziologe Ulrich Beck treffend in seinem Buch Risikogesellschaft. Und für die Lösungen der Probleme der Zukunft kann nicht dasselbe Denken Anwendung finden, das erst zu diesen Problemen geführt hat. Das kann sich jeder leicht klarmachen. Auch die Positionen eines Ulrich Beck sind hier nicht hinreichend.

Ein Problem bei der Ausarbeitung neuer Konzepte ergibt sich daraus, dass weitaus die meisten Piraten in einer seit den 80er Jahren komplett neoliberal geprägten Gesellschaft politisch sozialisiert worden sind, einer Gesellschaft, an der die Grünen und auch die Linkspartei sicher einen verdienstvollen Anteil der Nichtwirksamkeit haben.

Die Sache mit der Macht

Umso erstaunlicher mag es sein, dass es überhaupt zur Gründung einer Partei kam. Und: Es sollte bitte bedacht werden, wie klar sich die Piraten beispielsweise für ein menschenwürdiges Europa der Bürgerinnen und Bürger ausgesprochen und wie klar sie sich gegen Freihandelsabkommen und die Installation supranationaler Schiedsgerichte positioniert haben. Insofern kann man meiner Partei nicht unterstellen, sie hätte keinen Blick für die durch die dunkle Seite des Netzes nun umso deutlicher zutage tretenden globalen Machtverhältnisse.

Auf einer Seite, der Achse der vorwiegend informationsökonomischen Interessen, hat sich ein informationswirtschaftliches Oligopols gebildet mit den fünf Global Playern Google, Facebook, Apple, Amazon und Microsoft. Auf einer anderen Seite – aufgedeckt durch Edward Snowden – geht es um eine durch Sicherheitsinteressen und Terrorgefahr fadenscheinig begründete massive Sammlung von Informationen. Staaten, die über die technischen und wirtschaftlichen Mittel verfügen, führen – angeführt von den USA – über ihre Geheimdienste einen totalitär zu nennenden Krieg gegen die Bürger.

Beiden Seiten gemein ist ein – hier soziologisch, dort ökonomisch motivierter – Alchimistentraum, und zwar der von der totalen Vermessung der Gesellschaft. Man will einen Plan haben – hier für die Erfassung der Bürgerinnen und Bürger, dort für die Kundinnen- und Kundenfunktionen, um den eigenen wirtschaftlichen Erfolg oder den Erfolg der Macht planbar zu machen. Die totale Realisierung dessen, was man zur Zeit des Sowjetregimes im Westen verächtlich "Planwirtschaft" nannte.

Der Konzentration der Informationsmacht des Fünfer-Oligopols und der Sammelmacht der Geheimdienste der Nationalstaaten trat ein drittes Strukturelement des Netzes an die Seite, das allerdings schon längst und in aller Stille stattgefunden hat: die weltweite Konzentration des Kapitals. Das wurde unlängst gezeigt durch eine quantitative Analyse der weltweiten Kapitalströme und -beteiligungen in der Studie "The Network of Global Corporate Control" einer systemanalytischen Arbeitsgruppe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

In der Summe bleibt festzuhalten, dass hinter den vordergründig in den Medien diskutierten Netzphänomenen ein Krieg der Verteilung von Macht- und Einflussfaktoren untereinander und zwischen Staaten und Unternehmen in vollem Gange ist. Die Personen und Akteure dieser Welt bleiben bevorzugt unter sich. Zu beklagen ist, dass wir über diese transnationale Gruppe von Leuten nur sehr wenig wissen, denn diese hat kein Interesse daran, dass über sie eine Soziologie geschrieben wird.

Wir müssen uns vorwiegend damit politisch auseinandersetzen. Das ist wirkliche Netzpolitik. Kleinkriege und Stellvertreter-Auseinandersetzungen sind wenig hilfreich und nutzen nur dem Erhalt der existierenden Strukturen. Daran mitzuarbeiten, dem offensiv entgegenzutreten, sollten sich alle progressiven politischen Kräfte verschreiben. Und dabei sind natürlich auch sich als klassisch links bezeichnende Positionen herzlich willkommen.

Joachim Paul ist Fraktionsvorsitzender der Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen

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