Dichtung und Wahrheit liegen bekanntlich eng beisammen. Besonders dann, wenn es um das eigene Leben geht, lassen sich Erinnertes und Erfundenes kaum voneinander trennen. Es ist auch gar nicht einzusehen, warum die Aufzählung von Fakten einen höheren Wahrheitswert haben sollte als die Einsichten der Phantasie. Ludwig Harig, der Anfang der achtziger Jahre damit begann, autobiographisch zu erzählen, kennt die Untiefen der unzuverlässigen Erinnerung. Er weiß, dass Wahrheit nichts anderes ist als eine Fassung der Fiktion, auf die der Erzähler sich schließlich festgelegt hat. Seine autobiographische Trilogie Ordnung ist das halbe Leben, Weh dem, der aus der Reihe tanzt und Wer mit den Wölfen heult, wird Wolf griff mutig ins Dichterische aus, auch wenn es in allen Geschichten um wahre Begebenheiten ging. Doch wenn Harig erzählt, dann zielt er immer auch auf das »Ungewisse erfundener Möglichkeiten«. Denn was wäre das Leben ohne den Möglichkeitsraum der Freiheit, dass alles auch ganz anders sein könnte.
Ausflüge ins Ungewisse sind schon deshalb unerlässlich, weil Harigs Erzählen weit vor der eigenen Geburt einsetzt. Sein Ausgangspunkt war das Schweigen des Vaters, das er mit der eigenen Vorstellungskraft zu füllen entschlossen war, um dessen Erlebnisse im ersten Weltkrieg aus Andeutungen und Mutmaßungen zu rekonstruieren. Er wollte die Bedingungen der eigenen Herkunft verstehen, denn das eigene Leben ist ja nicht bloß durch die Ereignisse zwischen Leben und Tod bestimmt. Im Schlamm von Verdun begab er sich auf Spurensuche und überlegte, »was Vater getan hat, was ich getan hätte, was von anderen noch getan wird.« Der Vater ist auch jetzt noch nicht in der Lage, vom traumatisierenden Geschehen zu erzählen. Als er ein Bild von den Kämpfen sieht, schweigt er besonders intensiv, doch der Sohn bemerkt, dass er eine Gänsehaut bekommt. Den Spurensucher trifft es oft härter als den, der die Spuren gelegt hat, schreibt Harig im Rückblick. Vielleicht deshalb, weil er dem Geschehenen einen Sinn verleihen möchte? Weil er etwas ins Bewusstsein zurückholen will, was längst vergessen ist? Weil er im Unterschied zu den historischen Akteuren nicht mehr ahnungslos sein darf? Der Autobiograph aber ist Spurenleger und Spurensucher zugleich. Er hat es also am schwersten.
Auch in dem nun erschienenen ergänzenden Prosaband Und wenn sie nicht gestorben sind betreibt Harig autobiographisches Schreiben als eine weit gespannte Existenzergründung. Der Titel der Sammlung - die meisten Texte sind bereits andernorts erschienen - signalisiert, dass es sich durchaus auch um ein Märchenbuch handeln könnte. Kein Wunder bei einem Autor, der immer wieder auf die Märchen der Brüder Grimm und Christian Andersens zurückgreift, die ihn seit früher Kindheit begleiten. In den Märchen fand er eine Sprachkraft, die sich der profanen Welt entgegensetzen ließe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute: Die Geschichten enden nicht und müssen weitererzählt werden. »Das hält auch der Tod nicht auf«, heißt es im Nachruf auf den Freund und Übersetzer Eugen Helmlé, der den Band beschließt. Albert Einsteins Erkenntnis »Zeit und Raum verschwinden mit den Dingen« verwandelt sich für Harig in einen verborgenen Satz aus einem Märchen. Er begründet eine Art Relativitätstheorie des Erzählens. Zeit und Raum sind überwindbar, doch erst im sinnlich fassbaren Konkreten entsteht die Tiefendimension der Erinnerung. So ist Harigs Ton oft märchenhaft und führt in eine Welt, in der es noch dunkle Tannenschatten, Talgründe und Höllenschlünde gibt. Joseph von Eichendorff ist ihm näher als die Naturschützer der Gegenwart, die das Waldsterben mit Statistiken bekämpfen, aber das Spazierengehen und das schwelgerische Betrachten von Himmel und Land verlernt haben.
Trotz des goethehaften Untertitels Aus meinem Leben ergibt sich keine lineare, souveräne Lebensgeschichte, sondern eher eine Jahrhundertbesichtigung aus saarländischer Perspektive. Sie reicht von den Schützengräben Verduns bis in die Haftanstalt Berlin Moabit, wo der Schriftsteller aus Sulzbach 1992 den inhaftierten Landsmann Erich Honecker besuchte. Das Porträt Honeckers als sentimentaler Großpapa ist ein Glanzstück der Reportagekunst, das in jedes deutsche Lesebuch gehört. Die Begegnung mit dem Chef des untergegangenen Staates gipfelt in einem rührseligen Moment der Heimatliebe. In dialektaler Wärme gesteht Honecker, dass er nur noch einen Wunsch im Leben habe: Nur noch einmal nach Hause! »Nix wie hemm!« sagt er und zitiert damit die Parole, mit der die Saarländer 1935 für den Anschluss ans Reich stimmten. Die Dialektik der Geschichte hebt sich auf im heimatlichen Dialekt, der Staatsmann bleibt doch Kleinbürger. Der Anblick Honeckers als alter Mann mit Strohhut auf einem friedlichen Bänkchen in Wiebelskirchen blieb der Welt zwar erspart. Harig hat jedoch dessen Schwester Gertrud besucht und ihre Worte notiert: »Jaja, unser Erich, er hat´s ja gudd gewollt, awwer wie´s kumm is?« Die Frage verebbt so ratlos wie der Sozialismus.
Die DDR erscheint mit dieser Honeckerfigur als saarländische Verirrung. Der Osten ist von der Saar aus betrachtet eine weit entfernte Terra incognita, ein trübes Land. In Harigs Region sind Welt und Gemüt gleichermaßen sonnig; Genussfähigkeit ist das Zentralorgan der Lebenskunst. Guter Wein, gutes Essen, Treue und Geselligkeit sind die Eckpfeiler der Existenz, und so richtet sich sein Blick zwangsläufig nach Westen, nach Frankreich. 1949 kam er als Austauschlehrer nach Lyon und führte mit den französischen Kollegen lange Debatten über Deutschland und die Deutschen. Harig, als Zögling einer nationalsozialistischen Eliteschule bis 1945 ein überzeugter Mitläufer, musste sich nun mit der These auseinandersetzen, dass Kant und die Konzentrationslager von der selben deutschen Tugend der Ordnung hervorgebracht worden seien und dass selbst Bach in seiner Unerreichbarkeit Inbegriff deutscher Un-Menschlichkeit sei. In Frankreich erlernte Harig Aufklärung und Demokratie. Er entdeckte die moderne Literatur, von der er bis dahin wenig wusste, das Reisen und den Süden und die Freiheit.
Viele Jahre später war es der nach Frankreich emigrierte und dort heimisch gewordene Georges-Arthur Goldschmidt, dessen Leben ihm wie eine Kehrseite der eigenen Welt erschien. Harig kontrastiert die eigenen Erinnerungen an die Schulzeit, die in einem Referat über Hans F.K.Günthers »Rassenkunde des jüdischen Volkes« gipfelte, mit dem Überlebensbericht Goldschmidts, der in einem französischen Internat nur knapp der Deportation entging. Erst indem Harig die engen Grenzen des persönlichen Erlebens überschreitet, weitet sich sein Erzählen zur Autobiographie. Eine andere Gegenfigur aus dem Möglichkeitsraum, den er selbst nicht betreten hat, ist der Saarbrücker Widerstandskämpfer Willi Graf, der 1943 als Mitglied der »Weißen Rose« hingerichtet wurde. Alles, was Harig wünschen kann, wäre, ihm wenigstens einmal begegnet zu sein beim Spazierengehen im Sulzbacher Wald. Aber selbst dazu ist es wohl nicht gekommen. Und wenn, dann hätte Graf einen großen Bogen um den Hitlerjungen in seiner Uniform gemacht.
Manche Geschichten aus den autobiographischen Romanen erzählt Harig weiter, weil sie auch in der Wirklichkeit weitergegangen sind. Der kleine, gequälte und gehänselte René aus der Grundschule, mit dem der Roman Weh dem, der aus der Reihe tanzt einsetzt, meldete sich bei ihm, nachdem das Buch erscheinen war. René erzählte ihm seine Geschichte und ihren Fortgang: Dass er im Alter von sieben Jahren von seiner Mutter getrennt und in ein Heim eingeliefert wurde, während sie für geisteskrank erklärt und 1944 zu Tode gespritzt wurde. Gemeinsam forschen sie nach dem Grab der Mutter, und Harig besucht René in seiner kleinen Wohnung unterm Dach, wo der alte Mann seine elektrische Eisenbahn fahren lässt: Keine Geisterzüge zur Verladerampe, sondern beruhigendes Kreisen um Berge und die immergleichen Dörflein. Es gibt auch ein Recht zu vergessen.
Selten nur greift Harig kommentierend ein. Er erzählt, ohne zu erklären. Sein Abscheu vor hochtrabenden Begriffen hat ihm den Ruf eingebracht, ein naiver Erzähler zu sein. Aber das Einfache ist nicht immer simpel. Bei Harig ist es Resultat eines langen Schreibprozesses, der von experimenteller Prosa der Bense-Schule in den fünfziger Jahren über formstrenge Lyrik, Essays und Reportagen erst allmählich zum Erzählen und Weitererzählen von Geschichten aus dem eigenen Leben führte. Die Etappen der schriftstellerischen Laufbahn schildert der Germanist Werner Jung in seiner Werkmonographie mit dem Titel Du fragst, was Wahrheit sei?, die zum 75. Geburtstag Harigs im Juli erschienen ist. Sie bietet Interpretationsangebote wie Rezeptionsgeschichte und ist als gelungene Einführung ebenso zu lesen wie als prägnante Chronik. Ergänzend dazu gibt es eine umfangreiche Bibliographie, die Zeugnis ablegt von der beeindruckenden Produktivität Harigs seit mehr als 50 Jahren. Man muss nicht unbedingt unglücklich sein, um produktiv zu werden. Das lehrt Ludwig Harig, dessen neues Buch auch eine Verteidigung des Glücks und seiner Literaturfähigkeit enthält. »Im Saartal unterhalb des Dörfchens Niederstinzel schlugen wir einmal im Sommer unser Mittagslager auf. Stundenlang saßen wir auf unseren Klappstühlen um den Campingtisch herum, aßen frisches französisches Weißbrot und tranken algerischen Rotwein dazu, bevor wir den Rauch unserer Zigaretten genossen.« So einfach, so schön kann das Leben manchmal sein. Ist das nicht wunderbar?
Ludwig Harig: Und wenn sie nicht gestorben sind. Aus meinem Leben. Hanser, München 2002, 360 S., 21,50 EUR
Werner Jung: Du fragst, was Wahrheit sei? Ludwig Harigs Spiel mit Möglichkeiten. Aisthesis, Bielefeld 2002, 300 S., 24,50 EUR
Werner Jung/Marianne Sitter: Bibliographie Ludwig Harig. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2002, 339 S., 44,80 EUR
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