Einer wie ich!

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Halbmarathon klingt nicht gut. Halbmarathon ist ein Widerspruch in sich selbst. Der Verweis auf die extreme muskuläre Heldentat, auf Anstrengung und Zähigkeit des Willens wird in der Halbierung so sehr zurückgenommen, dass er geradezu lächerlich wirkt. Halbmarathonläufer sind die Flachschwimmer der Langstrecke. Wer will sich schon mit halben Sachen wichtig machen? Heroismus ist nicht teilbar.

Andererseits fängt jeder mal halb an. Und 21,097 Kilometer sind eine Distanz, die dem weniger geübten Läufer recht eindrucksvoll erscheint. Was mich dazu getrieben hat, am 20. Berliner Halbmarathon teilzunehmen, ist im Rückblick schwer zu sagen. Ich tat es freiwillig. Dabei war ich stets ein ausgesprochener Verächter des gemeinen Park-Joggers, der hechelnd, keuchend und schweißtropfensprühend dem beschaulichsten Sonntagnachmittag etwas heillos Verhetztes zu verleihen vermag - zumal dann, wenn er in größeren Mengen auftritt. Eines Tages aber lief ich selbst, trabte zu Übungszwecken am Ufer der Spree entlang, durchhechelte den Treptower Park und behauptete hinterher, mich großartig zu fühlen. Also blieb ich dabei. Ein halbes Jahr dauert dieser Zustand nun schon an. Ich trat in eine neue Familie ein. Wir grüßen uns mit locker abgespreizten Fingern oder einem beiläufigen Nicken, wenn wir uns im Plänterwald begegnen, als wären wir einsame Motorradfahrer auf der Landstraße. Wer sich täglich über den Weg läuft, lernt sich kennen, ohne jemals ein Wort gewechselt zu haben. Psychische und physische Verfassung sind an Schrittfrequenz und Elastizität gut abzulesen, ebenso bevorstehende Wettkämpfe, die das spielerische Dahingleiten mit dem Ernst der nahenden Aufgabe erfüllen.

Einige Monate lief ich ohne Beschwerden mein wachsendes Wochenpensum. Doch kaum hatte ich in einem Fachbuch gelesen, dass der Anfänger dazu neigt, zu billiges Schuhwerk zu tragen, taten mir die Füße weh. Sobald ich um Luft- und Gel-Dämpfungssysteme wusste, Antipronationskeile und Torsionsstäbe für unverzichtbar und Vorfuß-Flexkerben für bedenkenswert zu halten begann, schmerzten Knöchel und Achillessehne so hartnäckig, dass ich sofort neue Schuhe kaufen musste. Die Verkäuferin fragte mich, ob ich Normalpronierer, Überpronierer oder Supinierer sei, ob ich Schuhe mit Alpha- oder Theta-Gel, mit Ethyl-Vinyl-Acetat-Dämpfung oder Polyurethan-Schäumung bevorzuge und wie's überhaupt mit den exoskletalen Werten stehe. Ja, sagte ich, und ging schließlich mit den Allroundern Gel-1050 von asics und mit einer Broschüre nach Hause, die mir bestätigte, dass runners einfach different sind: wind in your hair, sweat in your eyes, vaseline in your armpits. Das weitere Training verlief dennoch enttäuschend, denn Laufen muss man auch in guten Schuhen selbst.

Am Start denkt man besser nicht über das Ziel nach. Auch über die Entfernung sollte man nicht nachdenken, solange gelaufene und zu laufende Meter in einer so ungünstigen Relation zueinander stehen. Besser ist es, letztmalig die Wadenmuskulatur auszuschütteln und darauf zu hoffen, dass die Nudel-Energie, die man seit Tagen in sich hineingeschaufelt hat, in den körpereigenen Glykogenspeichern sauber gestapelt bereitliegt. Am Tag vor dem Rennen gab es in der Kongresshalle am Alexanderplatz auf der Pastaparty einen ultimativen Schlag Spaghetti auf den Pappteller: ein bisschen Kraft durch Freude. Warum sind aber ausgerechnet heute die Knie so steif? Sehen die anderen nicht wesentlich fitter aus? Muskeltechnisch reifer? Erfahrener? Professioneller gekleidet? Hätte ich nicht wenigstens einen Energieriegel einstecken sollen? Vaseline in your armpits?

Mit dem Start beginnt die lange Flucht nach vorn. Jetzt liegt dein bisheriges Leben hinter dir. Alles andere, als immer weiter zu laufen, wäre eine große Demütigung. Viele Tausend Füße trommeln den Rhythmus auf den Asphalt, eine Herde auf der Flucht, woher, wohin, egal, jetzt gilt nur noch Schritt für Schritt. Existentielle Sinn-Fragen und Erörterungen der Metaphysik des Weges werden auf später verschoben. Am Straßenrand die Fans, die jubeln doch dir persönlich zu. Deine Leistung zählt. Du denkst in Buchtiteln: Einer wie ich! Auf dem langen Weg zu mir selbst! Jetzt oder nie! Die Beine sind leicht und verrichten ihre Arbeit autonom. Seltsam nur, dass die Kilometertäfelchen am Straßenrand immer weiter auseinander stehen, je länger du läufst. Seltsam, dass es dir so vorkommt, als ginge es ab Kilometer 15 nur noch bergauf. Erniedrigend, dass neben dir zwei Typen laufen, die sich über ihren letzten Urlaub unterhalten, als säßen sie gemütlich am Frühstückstisch, während du intensiv mit der Atmung beschäftigt bist. Beschämend, dass vor dir einer seinen Sportkinderwagen schiebt und trotzdem schneller ist als du. Das Kind im Wagen schläft. So jung, und schon ein halber Marathon, und ihn dann doch verpasst. Aber im Schlussspurt, da zeigst du ihnen noch mal, was in dir steckt.

Was bleibt? Der Muskelkater und die Zeit. Da man die Gefühle von unterwegs, die zwischen Euphorie und Entsetzen schwanken, nicht festhalten kann, notiert man am Ende die technischen Daten. Halbmarathon: 1 Stunde, 48 Minuten und 24 Sekunden. Mir fehlen also nur 47 Minuten bis zur kenianischen Weltspitze. Das ist, lebenszeitlich gedacht, nicht sehr viel. Und mit Platz 2.231 liege ich immerhin im oberen Mittelfeld. Zum Ganzmarathon fehlt aber noch eine komplette Hälfte. Wie trostlos.

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