In China fällt ein Sack Reis um. In Neuseeland klappt ein Schmetterling die Flügel zusammen. In Unterhaching wird Bayer Leverkusen Deutscher Meister. Tolle Sache, wenig Zweifel: Danach wird nichts mehr so sein wie zuvor. Christoph Daum wird lächeln und völlig vergessen, darauf hinzuweisen, dass die Fehler, die heute gemacht wurden, morgen besprochen werden müssen. Die Spieler werden die Meisterschale in den Himmel über Unterhaching recken und sich mit Champagner oder wahlweise Weißbier übergießen. Der Reporter von Sat1 wird "riesige Begeisterung" ausmachen, von "Emotionen pur" berichten und sagen, dass der Hachinger Sportpark einem Tollhaus gleiche. Der Rest der Republik denkt sich, ist eigentlich o.k. so, die haben das mal verdient, die komischen Werks-Kicker vom Autobahnkreuz, waren lange genug ewige Zweite und haben den schönsten Fußball gespielt. Muss man anerkennen. Aber wer kann sich schon wirklich erhitzen für die Chemieelf Bayer Leverkusen? Nach dem Saisonfinale stellt sich unweigerlich die existentielle Frage: Hat man tatsächlich schon wieder 34 Spieltage lang Run gesehen, Tabellen studiert, Punkte addiert, Prognosen geprüft, hat Chancen berechnet, Risiken minimiert, sich mit Deislers Leiste, Jeremies' Schlüsselbein, Effenbergs Muskeln beschäftigt, das Tor des Monats gewählt, hat Hitzfelds teuren Mantel bewundert, Martin Max trotz vieler Tore nicht sympathischer finden können, sich um Dortmund gesorgt, viele neue Namen gelernt und alte vergessen, nur um am Schluss zu sagen: Das war's? Wir Zeugen des Titelgewinns Bayer Leverkusens?
Ach, wäre man doch als Italiener auf die Welt gekommen, als Römer gar. Dann hätte man in der 87. Minute in Erwartung einer möglichen Meisterschaft den Platz gestürmt und die Spieler der eigenen Mannschaft in unbändiger Leidenschaftsaufwallung entkleidet. Denn so geschah es. Lazio führte mit 3:0 gegen Reggina Calcio. In Perugia, wo Meisterschaftskonkurrent Juventus Turin spielte, stand es zur Pause 0:0, ein Ergebnis, das Juve zum Titelgewinn gereicht hätte. Doch dann ging das Stadion im Regen unter. Der glatzköpfige Schiedsrichter Collina warf zur Probe einen Ball auf den Platz, der anstatt zu hüpfen, mit einem platschenden Geräusch liegen blieb. Der Anpfiff zur zweiten Halbzeit verzögerte sich um mehr als eine Stunde. Dabei war Perugia auserkoren, die Gerechtigkeit siegen zu lassen. Eine Woche zuvor hatte der Schiedsrichter dem AC Parma ein reguläres Kopfballtor zum 1:1 gegen Juve aberkannt, den Turinern damit zum Sieg und schon fast zum Titel verholfen. Lazio Rom fühlte sich wie immer betrogen. Im Süden des Landes glaubt man schon lange an eine norditalienische Fußballmafia, die dafür sorgt, dass die Traditionsvereine aus Turin und Mailand stets gewinnen. Warum sonst war Lazio im Vorjahr einen Punkt hinter dem AC Milan auf Platz zwei gelandet? Warum sonst lag der letzte, der erste und einzige Meistertitel mehr als zwanzig Jahre zurück?
Man muss diese Demütigungen berücksichtigen, um die Begeisterung zu verstehen, die in der 87. Minute in Rom triumphierte. Dass zu diesem Zeitpunkt Turin mutmaßlicher Meister war, denn in Perugia dauerte die Regenpause und das 0:0 an, störte niemanden. Man feierte die bloße Möglichkeit der Meisterschaft, feierte gleichsam konjunktivisch oder, als Metapher formuliert, mit einer Ejakulatio praecox. Die römischen Fans rannten auf den Platz und rissen ihren Spielern Trikots und Hosen vom Leib, Reliquien eines Augenblickes, der so oder so demnächst historisch sein würde. Die Spieler standen entblättert in Unterhosen herum, die man ihrer Restwürde gelassen hatte, seltsame Krieger, ratlose Heilige. Vergeblich versuchten sie, in die Stadionkatakomben zu entkommen. Auch in den Gängen zu den Kabinen lauerten versprengte Fans und griffen, mittelalterliche Wegelagerer, nach Hemd und Hosen ihrer Helden, und wenn sie nur gekonnt hätten, hätten sie sie mit Haut und Haar genommen. Es dauerte einige Zeit, bis das Spielfeld geräumt und die letzten Minuten in frischer Kleidung absolviert werden konnten. Endstand 3:0. Aber was war mit Juventus? Der Regen in Perugia hatte nachgelassen, das Wunder nahm seinen Lauf. Perugia schoss den Ball einmal ins Tor und gewann, Lazio war Meister. Und über eine Stunde nach Spielschluss - niemand war nach Hause gegangen - stürmten die Fans erneut den Platz, jetzt ganz offiziell, amtlich anerkannt, fahnenschwenkend. Hurrah!
So. Und nun schalten wir noch einmal in den Hachinger Sportpark. Die 15.000 Zuschauer, die sich im Münchner Vorort versammelt hatten, sind längst zu Hause bei Bier und TV. Die Spieler feiern noch ein bisschen, vielleicht gibt ihnen Christoph Daum ein paar Tage frei. Er selbst muss jetzt schon an die nächste Saison denken, die Gegner schlafen nicht und werden jede Blöße nutzen. Uns aber, die wir die abgelaufene Spielzeit schon fast vergessen haben, drohen schwere Wochen mit nichts als der Nationalmannschaft. Trotzdem werden wir alle EM-Spiele ansehen und jedesmal hoffen, dass das nächste besser wird.
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