Mehmet Scholl schämte sich grundsätzlich. Oliver Kahn schämte sich "für diese Leistung". "Was hier passiert ist", sagte er, "das habe ich noch nie erlebt. Dafür schäme ich mich." Oliver Bierhoff, der das Glück hatte, verletzt zu sein, befand: "Die Art des Ausscheidens ist für mich beschämend." Scham auch bei Leverkusens Manager Rainer Calmund, der kaum noch wagte, das Hotelfoyer zu betreten. Da hätte es der Aufforderung deutscher Fans, die ein Plakat mit der Aufschrift "Schämt Euch!" gepinselt hatten, bestimmt nicht bedurft. Die Schambereitschaft war nach dem EM-Aus in ungeahnte Höhen gestiegen. Scham war die letzte Zufluchtsstätte, in der sich die versprengten Reste der deutschen Mannschaft sammelten. Ihre inflatorischen Schambekenntnisse wirkten wie Peitschenhiebe mittelalterlicher Flagellanten, die mit dem öffentlich zur Schau gestellten Schuldbewusstsein den ersten Schritt zur Absolution unternehmen möchten.
Ein verlorenes Spiel ist normalerweise kein Grund, sich zu schämen. Es gibt ja genügend Beispiele von Verlierern, die den Platz "mit hoch erhobenem Kopf" verlassen dürfen. Scham sitzt tiefer. Scham hat etwas mit Erniedrigung zu tun - und unten, das wissen schon die Kinder, ist bäh. Der Soziologe Norbert Elias beschreibt Scham als "spezifische Erregung", als "Angst vor der sozialen Degradierung oder, allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer." Genau so musste man die Tore der Portugiesen, die eigentlich gar nicht gewinnen wollten, verstehen. Allzu einfach war es, den Ball ins deutsche Tor zu befördern, so dass man den dreimaligen Vollzug nur als demütigende Geste, als demonstrativen Akt verstehen konnte, der besagte: Wenn wir wirklich wollten, würden wir es ungefähr so machen. Die deutsche Mannschaft hatte verstanden und beantwortete den portugiesischen Überlegenheitsvorschein mit kollektiver Selbstzerknirschung. Elias beschreibt in seinem 1969 erschienenen Werk "Über den Prozess der Zivilisation" exakt, was sich in Rotterdam auf dem Platz abspielte: "Es ist eine Form der Unlust oder Angst, die sich dann herstellt und sich dadurch auszeichnet, dass der Mensch, der die Unterlegenheit fürchten muss, diese Gefahr weder unmittelbar durch einen körperlichen Angriff, noch durch irgendeine andere Art des Angriffs abwehren kann."
Die Erklärung, die Elias für diese Wehrlosigkeit gibt, stammt aus dem Repertoire der Psychoanalyse. Sie ergibt sich demnach daraus, dass die Überlegenheitsgesten, denen der Schambereite sich ausgesetzt sieht, mit dem "Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten" übereinstimmen, mit seiner "Selbstzwangapparatur, die in dem Individuum durch Andere, von denen er abhängig war, und die ihm gegenüber daher ein gewisses Maß von Macht und Überlegenheit hatten, herangezüchtet worden ist." Deshalb ist auch keine Gegenwehr möglich. Scham verbietet es zurückzuschlagen, wenn man geschlagen wird. Denn die Schläge, die man erhält, bestätigen ja nur, was man längst weiß: Es gibt keine Chance, man hat es nicht anders verdient. Wer sich schämt, der erkennt sich als unterlegen an.
Die geeignete Methode, einen Gegner zu beschämen, besteht darin, ihn zu entblößen. Fußballfans fordern ihre Mannschaft deshalb gerne dazu auf, dem Gegner "die Hosen auszuziehen" respektive die Lederhosen, falls es sich um den FC Bayern handelt. Solche Überreste uralter, kriegerischer Demütigungsrituale untersucht Hans Peter Duerr, der ewige Widersacher von Norbert Elias und Experte in Sachen Körperscham. Das Hosenausziehen ist in seinem Werk, historisch betrachtet, ein eher harmloser Fall der Schändung des Unterlegenen. Die Israeliten zu Zeiten König Davids zum Beispiel pflegten ihren unterlegenen Feinden in einer Art genitaler Skalpierung das Schamhaar zu rasieren. So jedenfalls interpretiert Duerr Jesaja 7,20: "An jenem Tag wird der Herr mit dem Messer, das er jenseits des Eufrat gekauft hat, euch den Kopf kahlscheren und die Schamhaare abrasieren; auch den Bart schneidet er ab."
Man sollte dankbar sein, dass die deutsche Nationalmannschaft uns derartige Schamdemonstrationen erspart hat. Die Rasur des Kopfhaars wird heutzutage ja eher freiwillig und als Siegeszeichen vollzogen. Auch das Schamhaar als solches ist längst nicht mehr schambesetzt. Olympiasieger Dieter Baumann hat in der Woche der deutschen Scham vielmehr bewiesen, dass aus diesem unscheinbaren Körperpartikel Rettung sprießt. Die Untersuchung eines Baumannschen Schamhaars im Dopinglabor endete negativ, so dass der DLV die Suspendierung des Läufers nach siebenmonatiger Zwangspause aufhob. Die Beweiskraft dieser Untersuchung ist zwar umstritten, doch die Bereitschaft, den Schambereich als Ort der Wende und Aufbruch zum Besseren zu begreifen, könnte auch für den deutschen Fußball richtungsweisend sein. Im Schämen jedenfalls waren wir bei dieser EM die Größten. Das lässt hoffen.
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