Vom unwiderstehlichen Drang zur Statistik

ORTE DER KINDHEIT Wie lange dauert ein Nachmittag? Du wusstest es nie. Es gab noch kein Maß für das Verstreichen der Zeit. Manchmal rief die Mutter plötzlich zum ...

Wie lange dauert ein Nachmittag? Du wusstest es nie. Es gab noch kein Maß für das Verstreichen der Zeit. Manchmal rief die Mutter plötzlich zum Abendessen, wenn du gerade den Sandkasten unter Wasser gesetzt hattest. Du wolltest unbedingt noch den nassen Sand herausbaggern, um daraus kühne Brücken und ein Gewirr aus Straßen zu formen, über die du morgen deine Autos würdest fahren lassen. Betonhart würden die Straßen dann sein. Unfälle würde es geben und Staus in den Unterführungen. Aber du würdest deine Feuerwehr losschicken und wieder einmal der Retter sein. An anderen Tagen hocktest du planlos im Treppenhaus, klettertest hinauf - jede Stufe halb so hoch wie du selbst - rutschtest wieder hinunter, versuchtest, die Stufen zu zählen, aber zählen konntest du noch nicht, und so standen die Stunden still, Stufe für Stufe, dehnten sich stumm dem Abend entgegen, an dem du dann wie immer würdest ins Bett gehen müssen, müde geworden vom Verstreichen der Zeit.

Später dann, als du gelernt hattest bis Hundert und sogar noch darüber hinaus zu zählen, konnte man dich fast täglich auf der Gartenmauer sitzen sehen. Gegenüber, vor der Drogerie Schwarz, trottete die mongoloide Drogisten-Tochter übers Trottoir, den Besen geschultert, mit dem sie sehr konzentriert den Bordstein kehren konnte. Stundenlang kehrte sie und stieß seltsame, gurgelnde Laute aus, während du auf der Mauer hocktest und nur die Lippen bewegtest, um die Autos zu zählen, die vorbeifuhren. Es war ein Spiel, das du mit wissenschaftlicher Gründlichkeit betriebst. Die Forschungsaufgabe des Tages hieß: Sind Volkswagen häufiger oder Mercedes-PKW? Das Haus der Kindheit lag an einer verkehrsreichen Kreuzung. Stand die Ampel auf Rot, dann staute sich der Verkehr bis zur Tankstelle vier Häuser weiter. Von dort roch es nach Blei, die Luft war schwer von Abgasen. Autos, die die Osterholzallee herunterkamen oder mit heulendem Motor den Aschberger Buggel überwanden, wurden nur gezählt, wenn sie in die Martin-Luther-Straße einbogen. Direkt vor dir mussten sie vorbeifahren, um gültig zu sein. Mercedes gewann immer. Mercedes war dein Lieblingsauto. Der Vater hatte seit kurzem einen Mercedes, dunkelgrün mit Schiebedach und Stern auf dem Kühler. Der Vater zählte aber nicht, wenn er in die Garage einbog. Du wolltest ohne diese Hilfe gewinnen. Mercedes gegen Opel: 50 zu 33. Wenn Mercedes gewonnen hatte, wusstest du, dass auch du unbesiegbar sein würdest.

Abends standest du am Dachfenster. Von dort aus konnte man auf die Eisenbahnstrecke hinter dem Haus hinuntersehen. Dazu musstest du auf einen Stuhl steigen. Manchmal kam mit viel Getöse und Gestank eine alte Dampflok vorbei, schon damals Abgesandte der Vergangenheit. Dich interessierten die E-Loks. Die neue, schnittige 103 mit der weiß-roten Lackierung und 200 Ka-Em-Ha Spitze. Im Eisenbahnquartett war diese Karte unschlagbar. Die grüne E 41 siegte zwar in der Rubrik PS, war aber zu langsam und wurde meistens vor Güterzüge gespannt. Die Waggons der Güterzüge zu zählen war schwierig: Die lange Reihe der Pritschenwagen, der Tanks, der unübersichtlichen Container. Trotzdem schriebst du die ermittelte Zuglänge in deine Liste ein. Du notiertest die Lok und die Uhrzeit, du kanntest den Schnellzug Stuttgart - Frankfurt, der um 17.12 Uhr deinen Beobachtungsposten passierte und warst in der Lage, Abweichungen von der Normalzeit festzustellen. Die statistische Erfassbarkeit der Welt war in eine neue Phase eingetreten. Entdeckung der Möglichkeit: Du konntest Züge vorhersagen, bevor sie vorbeifuhren. Und also waren sie irgendwann überflüssig.

Die nächsten Jahre verbrachtest du am Schreibtisch, und wieder schriebst du Zahlen auf. Fußballergebnisse. Tabellen. Siege, Unentschieden, Niederlagen. Torverhältnis. Punkte. Du hattest deine eigenen Ligen, Bundesliga, Regionalligen, Amateurligen. Die Ergebnisse wurden ausgelost, aber so, dass dein Lieblingsverein bald schon deutscher Rekordmeister war. Dramatische Abstiegskämpfe ereigneten sich, Spieltage voller Überraschungen, wie die Wirklichkeit das niemals zu bieten hatte. Eine Saison flog im Zeitraffer vorbei. Die Jahrzehnte vergingen und lagen in Heften geordnet in der Schublade. Weit ins noch ferne neue Jahrtausend hinein berechnetest du als Herr des Schicksals zukünftige Meister und Absteiger voraus. In Rechnen hattest du trotzdem nur ein Ausreichend. Da durfte man ja auch nicht mogeln, da blieb kein Raum für Leidenschaft, Sieg oder Niederlage. Dein Metier war das Dramatisieren von Zahlen. So hast du die Fiktion erfunden und dir ein eignes Reich geschaffen. Dass sich nicht nur Zahlen, sondern auch Worte zu Welten kombinieren lassen, war eine spätere, zufällige Entdeckung.

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