So eine Überschrift würde ich mir schon lange nicht mehr zutrauen: Ästhetik und Moral. Was damals angemessen bedeutungsvoll klang, klingt heute nach theoretischem Hartholz und würde von jedem Textchef kopfschüttelnd zurückgewiesen: Wer soll das denn lesen? Damals aber, in der allerersten Freitag-Ausgabe, machte ich es nicht darunter, denn damals ging es ums Ganze, um die richtige Wahrheit zumindest und um die Zukunft der Literatur. Wie ernsthaft wir waren! Was für ein Glück, dass wir darüber hinaus sind. Was für ein Verlust, dass so wenig davon geblieben ist.
Der Text war eine Antwort auf Ulrich Greiners Aufsatz zur sogenannten „Gesinnungsästhetik“ eine Woche zuvor in der Zeit, der mit der ultimativen Ansage begann: „Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird.“ Das ließ ich mir als Ost-West-Wochenzeitungsnovize nicht zweimal sagen, auch wenn ich spürte, dass dieser Feuilleton-Großhabitus eigentlich nicht mein Tonfall war. Ich wollte ihm trotzdem entsprechen und mutig mitspielen im Konzert der Geschichts- und Zukunftsbestimmer.
Lesen, ein offener Prozess
Das, was gewesen war, vor 1989, fand Greiner nicht so gut: Die deutsche Literatur in Ost und West habe vernehmbar geächzt unterm selbst auferlegten Joch der guten Absichten und der humanistischen Moral, ein Joch, an dem von Anfang an die überschweren Auschwitz-Gewichte hingen. Damit sollte nun, nach der Zäsur der deutschen Einheit, Schluss sein, Schluss mit allem Gruppe-47-haften, von Grass bis Kipphardt, von Walser über Enzensberger bis zu Peter Weiss. Die vom FAZ-Feuilleton-Novizen Frank Schirrmacher losgetretene Christa-Wolf-Debatte um die Erzählung Was bleibt war nach ein paar Monaten zu klein geworden. Jetzt wurde der linksliberale literarische Common Sense der Bundesrepublik verabschiedet.
Großer Gestus, großes Argument: Literatur ist nicht politisch, weil sie gute Absichten verfolgt (dann wird sie hohl), sondern nur dann – und da berief sich Greiner auf den Sprachwissenschaftler George Steiner –, wenn Momente höchster Aufmerksamkeit gelingen, in denen sich der Leser von Grund auf verändert. Das klang nach Epiphanie. Von Transzendenz war da die Rede, vom Göttlichen gar und von der „Verkündung einer schrecklichen Schönheit“.
2006
Wechselstimmung Nach fast zweijähriger Suche findet am 8. Juni in den Redaktionsräumen an der Potsdamer Straße das erste Treffen mit den neuen Herausgebern statt: der Schriftstellerin Daniela Dahn, dem Theologen und DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, dem ungarischen Schriftsteller György Dalos, dem Grünen-Politiker und EU-Parlamentarier Frithjof Schmidt. Die „Veteranin“ im Bunde, Gerburg Treusch-Dieter, stirbt am 19. November. Bereits im August desselben Jahres hatte die Debatte um einen erneuten Relaunch der Zeitung begonnen.
Das alles war mir zutiefst suspekt. Dass Steiner den Beginn von Rilkes erster Duineser Elegie paraphrasierte („Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen“), begriff ich nicht. Mit Rilke war ich noch nicht vertraut. Im Leserleben braucht halt alles seine Zeit. Wenn ich damals dem abwertenden Begriff „Gesinnungsästhetik“ das ebenfalls verächtlich gemeinte „Ästhetik der Absichtslosigkeit“ entgegenschleuderte, dann weiß ich inzwischen, dass Kunst nur aus der Absichtslosigkeit heraus entstehen kann und erst von dort aus ihre indirekte, außermoralische Moral bezieht. Und das Lesen ist und bleibt ein offener Prozess, eine Erweiterung der eigenen Denk- und Erlebensmöglichkeiten. Es setzt die Bereitschaft, sich verändern zu lassen, voraus. Aber das kann kein Künstler wollen oder erzwingen oder gezielt beeinflussen. Dennoch würde ich Greiner immer noch widersprechen wollen, wenn auch aus anderen Gründen. Was er der Literatur vorwarf, die „Verbindung von Idealismus und Oberlehrertum“, das wurde ja nicht besser, wenn man den Idealismus strich und nur noch das Oberlehrertum übrig ließ, wie es aus derlei Debattenbeiträgen herausmüffelte.
Die Unberechenbaren
Die pathetischen Vergangenheits- und Zukunftsbestimmer bestimmten in Wirklichkeit gar nichts. Die Probe aufs Exempel belegt das. Mal abgesehen davon, dass Greiner alle unterschlug, die nicht in seine Vergangenheitsdiagnose passten (von Handke über Huchel zu Heißenbüttel, um nur mal drei sehr disparate, ästhetisch empfindsame Dichter zu nennen), abgesehen davon, dass es auch und gerade innerhalb der Gruppe 47 die unterschiedlichsten Haltungen zum sogenannten „Engagement“ gab (selbst Grass wusste für sich sehr genau zwischen Kunst, Parteipolitik und bürgerschaftlichem Wahlkämpfertum zu unterscheiden), sind all die, die Greiner verabschiedete, heute immer noch da – sofern sie nicht gestorben sind.
Aber diese Alten, und das ist die besondere Pointe der Geschichte, stehen keineswegs für „Gesinnungsästhetik“, sondern werden – Beispiel Walser, Beispiel Handke – ganz im Gegenteil immer wieder für ihre amoralische Haltung angegriffen. Sie sind die Unberechenbaren, während die Öffentlichkeit immer moralischer und unduldsamer geworden ist – und mit ihr auch die nachwachsende, brave Literatur.
Ach, hätte Greiner, wenn er schon mit der Vergangenheit falsch lag, sich doch wenigstens als Zukunftsbestimmer durchgesetzt! Ach, wäre die Gesinnungsattacke doch mehr gewesen als bloß der Opportunismus der Nachwende-Ära, als es allzu leicht war, alles Vorige abzuräumen. Die Kritik hätte dann aber auch auf sich selbst zielen müssen, auf eine Literaturkritik, die es in den Jahrzehnten zuvor, solange sie sich damit unbeliebt gemacht hätte, versäumt hatte, sich gegen den moralischen Überdruck zu wehren. So ging die Sache nach hinten los: Alle großen Debatten, die folgten – Strauß’ Bocksgesang, Walsers Paulskirchenrede, Handkes Serbienreise –, riefen Empörung hervor, weil sie der fest verfugten Mehrheitsmoral widersprachen und auf einem ästhetischen Freiraum beharrten, und wäre es auch nur der, „andersgelbe Nudelnester“ auf einem Marktplatz in Serbien zu finden. Gerade in Kriegszeiten, wenn die Fronten auch im Feuilleton begradigt werden, war das nicht erlaubt.
So wurde eingeübt, dass sich das Schöne dem Opportunen zu fügen hat. Inzwischen wird das Gutgemeinte und Gutgemachte in einem Ausmaß goutiert, wie es 1990 nicht vorstellbar war. Der Literaturnobelpreis für die hervorragende Journalistin Swetlana Alexijewitsch (die eher den Friedensnobelpreis verdient gehabt hätte) und der große Erfolg von Jenny Erpenbecks Flüchtlingsproblematikroman Gehen, ging, gegangen sind aktuelle Symptome dieser ästhetisch-moralischen Harmoniesehnsucht.
1990 folgte ich dem Satz „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Ich verstand ihn gut marxistisch so, dass die gesellschaftliche Position und die materiellen Bedingungen darüber entscheiden, welche Ideen man vertritt und verteidigt. Im Umkehrschluss bedeutete der Marx-Satz, dass Kunst, die ihren gesellschaftlichen Standort, ihren weltanschaulichen Standpunkt und ihre politische Perspektive vergaß, „Herrschaftskunst“ war. Es gab eben keine „Absichtslosigkeit“, und es war klar, Kunst stets im Zusammenhang der Machtverhältnisse zu betrachten. Schließlich hatte ich ja auch die Ästhetik des Widerstands gründlich gelesen, in der Peter Weiss auf großartige Weise zeigte, wie Kunst – angefangen mit dem Kampf der Götter und Titanen auf dem Pergamon-Fries – antagonistische Klassenverhältnisse widerspiegelt. Dass ich auch beim Freitag vom „Sein“ her bestimmt wurde, also vom Ort am Rande der Öffentlichkeit in einer doppelt besetzten, paritätischen Ost-West-Redaktion, darüber dachte ich jedoch nicht ernsthaft nach. Wir waren sowieso überfordert mit all der Zeitgeschichte um uns herum.
Heute möchte ich den Satz vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, lieber mit Heidegger ausbuchstabieren – auch wenn Marx und Peter Weiss deshalb nicht falsch geworden sind. Wahrheiten schließen sich ja nicht aus, sondern überlagern sich schichtweise, erweitern sich und werden komplexer. In der marxschen Dialektik müssen Widersprüche „aufgehoben“ werden in der Synthese. Mit Heidegger dürfen sie bestehen bleiben; nicht die Harmonie ist das Ziel, sondern der Spannungsreichtum. Dann muss man sich allerdings daran gewöhnen, „Sein“ mit y zu schreiben oder es mit einem X gleich ganz auszulöschen zum Zeichen seiner Undenkbarkeit. Auch das autonome, vernunftgesteuerte Bewusstsein gibt es als ein vom Sein her bestimmtes nicht mehr – jedenfalls nicht als psychologisch zu analysierendes oder moralisch zu bestimmendes Hoheitsgebiet des Subjekts.
Doch Heidegger ist verschärft zu einem Fall für die Gesinnungsdogmatiker geworden, die ihn bloß noch verdächtig finden, ihn als Nazi und Antisemit endlagern und die das sichere Urteil einer Expedition in das von Hölderlin einst so emphatisch beschworene „Offene“ vorziehen. Für die Kritik heißt das, vom Gegenstand aus zu denken und sich ihm absichtslos zu nähern. Denn dann erst fängt die Kunst, fängt die Literatur zu sprechen an. Wenn aber Spielräume und Dissonanzen unerwünscht sind und alles schon feststeht, dann wird es sogar in dem weiten Raum zwischen Marx und Heidegger eng. Dabei bleibt dann nicht nur das schrecklich Schöne auf der Strecke, sondern auch das Denken.
Info
Dieser Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe zum 25. Geburtstag des Freitag
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.