„Hier liegt Bitterkeit begraben“ von Cynthia Fleury: Was Demokratien zu zerreißen droht
Ressentiment In Frankreich war Cynthia Fleurys Buch ein Besteller. Unser Autor, der Philosoph Jörg Phil Friedrich fragt, inwiefern sich dieses sehr französische Buch auf deutsche Verhältnisse übertragen lässt
Bestätigt Cynthia Fleury Ressentiments gegen die „Menschen des Ressentiments“, die man zuvor schon hatte?
Foto: Denis Allard/Leextra/Opale.Photo/laif
Das Buch Hier liegt Bitterkeit begraben von Cynthia Fleury ist ein sehr französisches Buch. In Frankreich, so kann man dem Buchrücken entnehmen, war es ein Bestseller. Ob es in Deutschland auch so viele Menschen erreichen kann, ist fraglich. Fleurys Buch steht ganz in der Schreibtradition des französischen Denkens des 20. Jahrhunderts. Wer mit dem Stil und der Argumentationsweise von Foucault und Latour oder gar mit der von Derrida und Levinas vertraut ist, wird sich leicht in das Buch hineinfinden. Wem aber die Denkfiguren der französischen Philosophie eher unbekannt sind, wird sich vielleicht schwertun.
Französische philosophische Texte zeichnet eine gewisse atemlose Metaphorik und eine Freiheit der Assoziationsketten aus, die der Strenge deutscher oder englischer
her oder englischer Texte eher fremd sind. Die Folge der Argumente, den Aufbau der Schlussfolgerungen nachzuvollziehen, fällt da oft nicht so leicht. Man begibt sich eher in einen Strom, der einen mitreißt, der aber nicht gleichförmig ist wie ein ruhiger Fluss, sondern eher wie ein Gebirgsstrom sprudelt und dann wieder unerwartet stoppt, ins Strudeln gerät, um dann wieder weiter zu reißen. Einem solchen wilden Wasser ähnelt auch Fleurys Werk Über Ressentiments und ihre Heilung – wie der Untertitel lautet.Es ist sinnvoll, die Unterschiede zwischen den Gesellschaften, in denen solche Werke entstehen, nicht ganz aus den Augen zu verlierenAuch in einem anderen Sinne ist ihr Buch vielleicht sehr französisch – es hat den Hintergrund französischer Erfahrungen. Wie so oft im Falle von Essays, die gesellschaftliche Erfahrungen reflektieren, ist es sinnvoll, die Unterschiede zwischen den Gesellschaften, in denen solche Werke entstehen, nicht ganz aus den Augen zu verlieren. Als vor sechs Jahren Gegen Demokratie (Ullstein) von Jason Brennan auf Deutsch erschien, wurden seine Erfahrungen mit dem amerikanischen System von vielen umstandslos auf Europa und Deutschland übertragen. So löste er eine Kontroverse aus, die vielleicht weniger dramatisch gewesen wäre, wenn man bedacht hätte, dass der Horizont des Autors eben durch die US-amerikanische Version von Demokratie geprägt war.Diese Gefahr besteht auch im Falle der Überlegungen, die Fleury über den „Menschen des Ressentiments“ anstellt. Wenn wir, wie wieder die Zitate auf dem Buchrücken es provozieren, das Buch als eine Analyse der „Unzufriedenheit und Bitterkeit, die unsere Demokratien zu zerreißen drohen“, lesen, dann ist es gut, einen Moment innezuhalten und die Differenzen zwischen den Bildern aus den französischen Banlieues oder von den sogenannten Gelbwesten-Demonstrationen und denen von Pegida-Montagsdemos zu bedenken. Die alltägliche gesellschaftliche Erfahrung, die eine französische Philosophieprofessorin mit Ressentiments macht, unterscheidet sich womöglich bemerkenswert von der, die man in Berlin oder Münster mit Protestformen machen kann.Aber vielleicht ist das gar nicht der richtige Zugang zu diesem Buch. Die Autorin selbst verrät nämlich nicht, an welche politischen Ereignisse und an welche Alltagserfahrungen sie eigentlich denkt, wenn sie von Ressentiments, von der Bitterkeit spricht. Dabei ist ja schon das Zusammendenken von Ressentiment und Bitterkeit gar nicht so selbstverständlich. Immer wieder fragt man sich, wie das eigene Vorverständnis von Ressentiment eigentlich zu dem passt, was Fleury da beschreibt, jedenfalls wenn man versucht, sich nicht schlicht fortreißen zu lassen und dabei irgendwie zustimmend einer verschwommenen Angst vor um sich greifender Wut, vor stärker werdendem Hass zu folgen.Geht es Cynthia Fleury um verfestigte Vorurteile oder um psychisches Störungen?Leider versäumt es die Autorin, am Anfang ihre Vorstellung von dem, was der Begriff Ressentiment beschreiben soll, durch Beispiele oder durch Verweise auf beobachtbare Verhaltensweisen und Ereignisse zu verdeutlichen. Auch eine Abgrenzung, etwa zum schlichten Vorurteil oder zur pauschalen Ablehnung, unterbleibt. So bleibt man beim Lesen immer unsicher, wenn man versucht, die Aussagen und Beschreibungen mit dem eigenen Erleben in Beziehung zu setzen. Spricht Fleury überhaupt über das, was ich selbst mit dem Begriff bezeichne?Zwar gibt es bereits auf den ersten Seiten ein Zitat von Max Scheler aus dem Jahr 1912, von dem Fleury meint, dass es das Phänomen „mit großer Klarheit definiert“, aber welche konkreten Beobachtungen in der heutigen Zeit davon erfasst werden sollen, erfährt man nicht. Von einem „wiederholten Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen Anderen“ ist da die Rede, die Fleury sogleich metaphorisch als Durchkauen und Wiederkäuen ausdehnt, was dann eben auch „mit der charakteristischen Bitterkeit einer vom Kauen ausgelutschten Speise“ verbunden sei. Aber worauf passen diese Metaphern nun nach Ansicht der Autorin? Das erfährt man nicht.Das Buch hat drei große Abschnitte, und der erste, der fast die Hälfte des Buchs umfasst, widmet sich unter dem Titel „Das Bittere“ einer psychoanalytischen Analyse des „Menschen des Ressentiments“. Hier gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass es eben gar nicht um die alltäglichen Formen von verfestigten Vorurteilen und ablehnenden Verhaltensweisen geht, mit denen wir täglich konfrontiert sind oder mit denen wir uns je selbst unseren Alltag vereinfachen, sondern um eine psychische Krankheit, die sogar in einem „Manual psychischer Störungen“ erfasst ist. Wenn es also tatsächlich um die Beschreibung der Genese und der Heilungschancen einer Krankheit geht, wenn man also das Buch als abstrakte Zusammenfassung der Therapieerfahrungen einer Ärztin lesen soll, wäre der Anspruch, den Untertitel und Buchrücken formulieren, allerdings verfehlt.Im zweiten Teil kommt die Autorin dann auch unter dem Titel „Faschismus“ zu „den psychischen Quellen des kollektiven Ressentiments“ – jedenfalls verspricht das die Überschrift. Fleury referiert umfangreich Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus von 1933. Dass dieses Buch wie auch die weiteren hinzugezogenen Werke über den Nationalsozialismus etwas über die heutige Zeit sagen, wird behauptet, aber nicht begründet. Sicherlich wird, wer sich in den Strom des Fleury’schen Denkens hineinreißen lässt, dem intuitiv zustimmen. Aber von einer umfangreichen Studie einer Pariser Universitätsprofessorin erwartet man eigentlich mehr als ein assoziatives Gerüst, an dem man seine Vorurteile über die angeblich ressentimentüberladenen Anderen anknüpfen kann.Fleurys Buch enthält durchaus interessante Gedanken, etwa wenn sie der Frage nachgeht, ob das Ressentiment ein Phänomen sei, das insbesondere in der Demokratie auftritt, die ihr Versprechen der Gleichheit nicht so einlösen kann, dass der Einzelne zufrieden ist, oder wenn die Fundierung des Ressentiments in Entfremdung und Verdinglichung angesprochen wird. Ihre Kritik der um sich greifenden Betrachtung des Krieges als „ästhetische und spektakuläre Erfahrung“ ist bedenkenswert. Sie regt an, sich mit den Werken von Scheler, Reich, Adorno und Fanon zu befassen. Ihre gesellschaftlichen Therapievorschläge bleiben allerdings nebulös und fragwürdig. Unterm Strich hängt ein großes Unbehagen nach: Habe ich wirklich etwas über die Gründe und die Heilungsoptionen für Ressentiments verstanden? Oder haben sich nur meine eigenen Ressentiments bestätigt, die ich gegen die „Menschen des Ressentiments“ zuvor schon hatte?Placeholder infobox-1