Was tun?

Polykrise Über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen veröffentlichte Thomas S. Kuhn 1973 ein grundlegendes Werk, das heute so aktuell ist wie wohl kaum jemals zuvor.

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Die weltbeherrschende marktwirtschaftliche Ideologie steht vor ihrem Offenbarungseid. Der systemische Zwang zum Wachstum zerstört die Grundlagen allen Reichtums, den Menschen und die Erde, heißt es im Kapital von Karl Marx. Der Spiegel titelte in der ersten Ausgabe in 2023 mit der Frage „Hatte Marx doch recht?“.

Prognosen und täglich zu beobachtende Ereignisse bestätigen, dass das System Erde nur über endliche Ressourcen verfügt und deshalb der Kapitalismus mit seinem exponentiellen Wachstum irgendwann am Ende sein würde. Goethe hat seine Faust-Dichtung überschrieben als Tragödie über den Kontrollverlust des Menschen über die in Gang gesetzten Prozesse der gewaltsamen Naturaneignung - als allegorische Dichtung über die Gefahren der unersättlichen (grenzenlosen) Unterwerfung der Natur.

Es heißt dort (Verse 11559-11593):

(…) „Im Innern hier ein paradiesisch Land:
da rase draußen Flut bis auf zum Rand!
und wie sie nascht, gewaltsam einzuschließen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. (…)

Dass der Gemeindrang irgendwann nicht mehr ausreichen würde, liegt in der Logik des Prozesses. Das geschaffene neue Paradies ist stets von der Natur bedroht, die sich mit ihren Mitteln zur Wehr zu setzen weiß. Goethe wurde sich der Konsequenzen des neuen Systems bewusst, weshalb er, das Werk noch unvollendet, eine Menschheitstragödie heraufziehen sah. Rund 200 Jahre später veröffentlichte der Club of Rome seine Studie über die "Grenzen des Wachstums". Niemand kann behaupten, man hätte nicht wissen können, was auf die Menschheit zukommt.

Zu was es führen kann, sich konstant zu weigern, diese Fakten zur Kenntnis zu nehmen, erleben wir jetzt, wenn alle seit langem angekündigten Krisen mit einer Wucht eintreten, die wir uns vor wenigen Jahren noch gar nicht vorstellen konnten (oder wollten).

Eine kleine Hoffnung bleibt: Die internationale Wissenschaft über das Klima spricht immer noch von der Möglichkeit, eine nicht mehr steuerbare Erderwärmung verhindern zu können. Die Zeit dafür wird knapp.

Die seit langem ablaufende Wüstenbildung in Südspanien, die Dürreprobleme weiter Teile Frankreichs (LeRoy 2023), und die Trockenprobleme für den Wald in Deutschland sind wie die biblischen Feuerzeichen an der Wand, die zu radikalen Reaktionen aufruft.

Und in einer solchen Situation werden Klimaaktivisten, die sich zur Bestärkung ihrer Forderungen (für Gespräche mit den Verantwortlichen über Tempolimits, 9-Euro-Tickets für den Nah- und Regionalverkehr, Bürgerräte und Klimaanpassungen der Städte an den Klimawandel) bei ihren Straßenblockaden am Asphalt festkleben, als Umwelt-Terroristen, Klima-Chaoten oder sogar als Klima-RAF denunziert. Der Minister Wissing macht sich regelrecht lustig über die Gruppe angesichts der Harmlosigkeit des Forderungskatalogs (Bericht im ZDF über ein Gespräch mit der letzten Generation am 2.5.2023). Dabei finden sich alle dieser Forderungen schon seit langem auf der politischen Agenda des politisch-administrativen Systems. Wenn es nicht so zynisch wäre, könnte man es als ein gutes Zeichen werten, dass gekaufte Medien und kapitalergebene Politik die radikalen Kritiker:innen kriminalisieren, mundtot oder lächerlich machen: denn je mehr und heftiger sie dies tun, desto mehr offenbaren sie, dass sie mit ihrem regulatorischen Latein am Ende sind.

Um mit der Situation einigermaßen zurecht kommen zu können, bedarf es einer grundlegenden Transformation in Wissenschaft und Politik: .

Wir brauchen nicht bei Null anfangen

In Theorie und Praxis wurden in letzten 50 Jahren Theorien, Methoden und Verfahrensweisen eingeführt, um die fatalen Folgen der herrschenden Irrationalität im Umgang mit Menschen und Natur zu mildern oder sogar zu verhindern. Aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaften gab es ab den 1960er Jahren die Initiative, sich genauer mit dem Instrumentarium strategischer Planungen zu beschäftigen. Arbeitslosigkeit, Systemkonkurrenz zur östlichen Planwirtschaft und Umweltvergiftung ließen die Träume einer krisenfreien sozialen Marktwirtschaft platzen. Der (konservative) Staatsrechtler Joseph Kaiser veröffentlichte bis 1972 eine Buchreihe zum Thema Planung (Kaiser 1965). Unter dem Leitmotiv Planung ist der Zug unserer Zeit informierten er und seine Ko-Referenten über internationale Beiträge zu Theorie und Praxis planerischer Praxis.

Mit den Erfolgen der Staatsinterventionen Ende der 60iger Jahre und der Ausrufung des marktradikal-neoliberalen Zeitalters (Anfang der 70iger Jahre) war das politisch-administrative System wieder so selbstbewusst, dass es im ersten Umweltprogramm der Bundesregierung selbstbewusst verkündete, dass die freie soziale Marktwirtschaft erwiesenermaßen allen anderen Regulationssystem überlegen sei. In der Folge versandeten die planungsorientierten Ansätze zugunsten einer zunehmenden Privatisierung von Planungs- und Infrastukturleistungen. Höhepunkt und Sieg in der Systemauseinandersetzung war die Kapitulation der Sowjetunion. Seit 2014 sieht es immer mehr so aus, als ob der Westen nur einen Phyrrussieg errungen haben könnte.

Es gibt einen breiten Fundus an Materialien Planung und Regulation - der für die weitere Entwicklung ausgewertet werden müsste

Gegen solche Initiativen steht eine umfassende Planungsfeindlichkeit in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Dämonisierung der sozialistischen Idee als Gespenst des Kommunismus konnte so tief im Bewusstsein Menschen verankert werden, dass es bis heute nicht möglich ist, vorbehaltlos öffentlich über Formen einer staatlich-gesellschaftlichen Regulierung und Planung zu diskutieren.

Das bedeutet: Schnellstmögliche Überwindung des kapitalistisch-neoliberalen Irrwegs, Veränderungen in der gesellschaftlichen Machtbalance, Entwicklung und Anwendung von allseits verbindlichen und gemeinsam erarbeiteten Normen und Verfahrensweisen im Umgang mit Menschen und mit der Natur. Dieter Klein hat ein Buch zum Thema Regulation vorgelegt, in dem der Vorschlag eines Rahmenkonzepts für den erforderlichen Paradigmenwechsel vorgestellt wird (vgl. Klein 2022, S. 99 ff.).

Der Begriff des Paradigmas steht für diesen Ansatz

Alle reden von Paradigma und Paradigmenwechsel und kaum einer weiß, was das eigentlich bedeutet. Als Paradigma bezeichnet man die innere Struktur eines Modells, bestehend aus Leitsätzen, Normen und allgemein anerkannten Gesetzen/Axiomen. Zwei mal zwei ist immer vier, alle Schwäne sind weiß, die sich selbst regulierende (und vor allem freie) Marktwirtschaft ist im Vergleich zu allen anderen das beste Sytem für Fortschritt, Effizienz und Wohlstand in der Geschichte der Menschheit.

Dieser Anspruch des kapitalistischen Marktwirtschafts-Systems wird nicht eingelöst: Für die Mehrheit der Menschheit ist kein menschenwürdiges Leben möglich - trotz der kapitalistischen Überproduktion, die es theoretisch ermöglichte, dieses allgemeine Ziel zu erreichen. Hinzu kommt die Zerstörung der Naturgrundlagen für eine gesicherte und nachhaltige menschliche Existenz durch den ungehemmten Raubbau an Naturschätzen und der Überausbeutung der menschlichen Arbeitskraft in weiten Teilen der Welt.

Die Transformation in ein neues umwelt- und gesellschaftspolitisches Paradigma wird schrittweise erfolgen und eine neue Machtbalance in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft realisieren müssen, um erfolgreicher die Krisen der Gegenwart bewältigen zu können, als das derzeit dominierende Paradigma. Der Profit wird nicht mehr als alleiniges Ziel seines Funktionsauftrages gesehen, sondern komplettiert auch die Ziele der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit (Gerechtigkeit, Schutz, Wiederherstellung und Entwicklung der Biosphäre als Lebensgrundlage für alle Menschen dieses Globus).

Ein solcher Paradigmenwechsel trifft auf den Widerstand all jener, die im herrschenden System ihr Auskommen und ihre Machtpositionen gefunden haben - oder zumindest gefunden zu haben glauben. Die im System arbeitenden Lohnabhängigen und Selbständigen (Techniker, Wissenschaftler, Politiker/-innen) müssen damit rechnen, im neuen paradigmatischen System Einkommen und Bildungs- und Macht-Privilegien zu verlieren weil andere Qualifikationen gebraucht werden, als sie derzeit vom Bildungssystems (von der Kita bis zu Universität) bereitgestellt werden.

Mit dem bevorstehenden Paradigmenwechsel entsteht ein neuer Bedarf an zielgerichteter (normativ ausgerichteter) Regulation zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Sektoren und gegenüber der Biosphäre. Nach alter Terminologie würde dies bedeuten, dass die Rolle der gesellschaftlichen Planung wieder deutlich verstärkt werden muss.

Worauf ich hinauswill: Ohne diesen Paradigmenwechsel wird es keine Lösung für die Polykrise geben können. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns - so schnell wie irgend möglich - auf den Fall vorbereiten müssen, dass der Paradigmenwechsel schnell kommt (was angesichts der Gesamtdynamik nicht ausgeschlossen ist). Wir müssen uns ein inhaltlich-strategisches Konzept erarbeiten, das interdisziplinär ausgerichtet eine Vorgehensweise ermöglicht, unter permanenter Begleitung durch die demokratische Öffentlichkeit eine fehlerfreundliche Strategie zu formulieren.

Um es kurz zusammenzufassen: Wir haben derzeit nur die Idee, wie wir uns den Ausweg vorstellen können, wie sich die Realität der Umsetzung darstellt, wird sich erst zeigen, wenn mit der konkreten Arbeit begonnen wird.

Einige Stichworte für die weitere Debatte lauten:

  • Klären, wie das neue regulatorischen Paradigma für Wissenschaft, Staat, Politik und Ökonomie aussehen soll
  • Aufbau und Entwicklung interdisziplinärer Arbeits- und Forschungsstrukturen
  • Ausarbeitung begründeter Leitbilder und Handlungskonzepte (Planungstheorie und Planungsmethodik)
  • Konsequente Bildungs-, Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit

Diese Debatte beginnt und es bleibt die Hoffnung, dass, die drohende Mega-Katastrophe vor Augen, die Bereitschaft für einen solchen Paradigmenwechsel schnell anwachen wird.

Weitere Beiträge zu diesem Thema werden folgen.

Der Autor:

Dr. Jochen Hanisch
em. Honorarprof. TU Berlin für Planungstheorie und -methodik
Mail: post[at]j-hanisch.net

Anmerkungen:

Seit Ausbruch der Corona-Krise arbeite ich unter dem Leitmotiv "Ohne Planung geht es nicht..." an der großen Frage, ob es angesichts der gegenwärtigen Großkatastrophe überhaupt noch Sinn macht, über einen planerischen Paradigmenwechsel nachzudenken. Dabei bin ich mit einigen Kollegen:innen im Gespräch über die weitere Vorgehensweise. Wir planen eine Reihe weiterer Fachbeiträge, die an geeigneter Stelle zur Verfügung gestellt werden sollen.

Kaiser, Joseph H. (Hg.) (1965): Planung I. Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gsellschaft, Baden-BadenKuhn, Thomas S. (1973): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M.

Leroy, Jérôme (2023) Die letzten Tage der Raubtiere. Kriminalroman, Hamburg, 2023 - der Roman beschreibt das Szenario einer fortgeschrittenen Hitzekatastrophe mit dem Zusammenbruch des liberal-bürgerlichen Systems und den daraus folgenden Kämpfen um die Macht.

Marx, K., Kapital Bd. 1, MEW, Berlin, S. 530

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Geschrieben von

Hanisch

Es liegt nicht am Wissen, es fehlt an der Bereitschaft, aus dem Wissen die Konsequenzen zu ziehen.

Multiple Krisen prägen die Gegenwart. Was tun? Viel nutzloses Gebrabbel, wenig konstruktive Vorschläge. Daran muss dringlichst gearbeitet werden.

Hanisch