Nasen wie Barbie

Literatur Schwarz, blond, wumpe: Bei Nell Zink darf man Spaß am Verwirrspiel der Identitäten haben
Ausgabe 17/2019

Der Wagen versinkt im See und mit ihm ein Leben, das Normalität versprach. Nell Zinks Virginia spielt in den Südstaaten der USA in den 1970er Jahren. Die lesbische Peggy hat ihren eigentlich schwulen Literaturdozenten Lee geheiratet und mit ihm zwei Kinder gezeugt. Im Original heißt der Roman Mislaid, verlegt. Peggy und Lee liegen falsch. Oder sie haben den Falschen oder die Falsche flachgelegt, je nachdem, wie man es übersetzen will.

Das Auto ins Wasser zu fahren, ist Peggys erster Schritt einer Rebellion. Als Lee daraufhin droht, sie in eine psychiatrische Klinik einzuweisen, entflieht sie ihrem Leben als Mutter und Hausfrau, die ihre schriftstellerischen Ambitionen vernachlässigt und von ihrem Ehemann regelmäßig mit Männern wie Frauen betrogen wird. Die Flucht zieht Peggy konsequent durch. Ihre kleine Tochter Mireille nimmt sie mit, den Sohn Byrdie lässt sie beim Vater. Peggy nutzt die Geburtsurkunde eines verstorbenen schwarzen Mädchens, um mit ihrer Tochter im ländlichen Südosten Virginias über zehn Jahre unter falscher Identität zu leben. Das bedeutet aber auch ein Leben in krasser Armut. Die kleine Mireille wird zu Karen, Peggy heißt nun Meg.

Der Roman changiert zwischen hetero und homo, zwischen schwarz und weiß und zwischen verlassener Hütte ohne warmes Wasser und Champagner, Austern und Wachtel zum Abendessen. Am Ende liegt Peggy dann wieder ziemlich richtig: homo, weiß und gut betucht.

Die 1964 geborene Zink ist ein Phänomen. Spät, erst mit 50, veröffentlichte sie ihren ersten Roman, der 2017 auf Deutsch als Der Mauerläufer erschien. Ihre Entdeckung verdankt sie dem Bestsellerautor Jonathan Franzen (Die Korrekturen), mit dem sie über ihr gemeinsames Interesse an Vögeln und Vogelschutz bondete. Franzen ermutigte sie, für ein breiteres Publikum zu veröffentlichen. Zink ist in Kalifornien geboren und in Virginia aufgewachsen. Heute lebt sie zurückgezogen in Bad Belzig in Brandenburg (der Freitag 08/2018).

Zink flicht rasant Handlungsstränge ineinander. Es macht Spaß, ihnen zu folgen: die Geschichte einer Ehe, eine Kindesentführung, eine Menge schräger Gestalten, Drogengeschäfte, Teenager-Liebe, eine Reihe von Zufällen, die die Familie wieder zusammenbringt. Es ist kein Wunder, dass die New York Times den Roman als Screwball-Komödie bezeichnete.

Schwierigkeiten bereitet es allerdings, das Spiel, das Virginia mit den Hautfarben seiner Protagonistinnen spielt, nachzuvollziehen. Die Rassentrennung ist in den USA in der Zeit, in der der Roman spielt, erst seit ein paar Jahren aufgehoben. Als Peggys Sohn Byrdie als Kleinkind zum ersten Mal eine Schwarze sieht, fragt er seinen Vater: „Ist die farbige Dame eine Sklavin?“ Den Fall, dass ein schwarzer Amerikaner als Weißer durchgeht, kennt man aus Philip Roths Roman Der menschliche Makel. Bei Zink läuft es genau umgekehrt: Eine weiße Mutter entführt ihre weiße Tochter, besorgt sich die Geburtsurkunde eines toten schwarzen Mädchens und fortan gehen beide als Schwarze durch und werden sogar von der schwarzen Community akzeptiert. Echt jetzt?

„Vielleicht muss man aus dem Süden stammen, um zu begreifen, was blonde Schwarze sind. Virginia war besiedelt, bevor die Sklaverei begann, und es war bunt. (...) Die einzige Möglichkeit, Weiße und Schwarze zwecks Rassentrennung auseinanderzuhalten, bestand in der Ein-Blutstropfen-Regel: War nur einer deiner Vorfahren schwarz – und sei es irgendwann in den Tiefen der Weltgeschichte, angefangen bei Noahs Sohn Ham –, dann warst du es auch“, erklärt die Erzählerin im Buch.

Cooler. Mächtig sind andere

Das für Uneingeweihte wenig glaubwürdige Spiel mit den Hautfarben dient als Katalysator für den Witz in Nell Zinks Roman. Die Frage ist nur: Auf wessen Kosten wird hier gelacht? Als Temple Moody, der schwarze Freund von Karen, von der Polizei verhört wird, die Karen sucht, sagt er aus: „Jeder sieht, dass sie schwarz ist. Sie hat volle Lippen und eine kleine, flache Nase, ein bisschen wie Barbie.“ Der See, an dem Lee in seinem Haus wohnt, sich mit Drogen und Sex vergnügt und Gedichte schreibt, ist von Sklaven angelegt worden. Der See verliert seit Peggys Flucht kontinuierlich an Wasser.

Zum Schluss fliegt die Tarnung auf, weil sich Byrdie und seine Schwester Karen, die ja eigentlich Mireille heißt und mittlerweile aufs College geht, auf einer verhängnisvollen Party kennenlernen. Als Karen erfährt, dass sie gar nicht schwarz ist, sagt sie zu ihrem Vater: „Es ist zwar verwirrend, aber auch aufregend. Ich meine, ich bin froh, als Schwarze aufgewachsen zu sein, weil das cooler ist, aber das Sagen haben ja eindeutig die Weißen.“ Wie in Shakespeares Sommernachtstraum ist das soziale Gefüge am Ende wiederhergestellt.

Nell Zink schreibt unsentimental und witzig. Mit einer allwissenden Erzählstimme, die das Geschehen scharf kommentiert und die Leserinnen und Leser immer wieder direkt anspricht. Niemand in Virginia ist durchweg sympathisch. Zur Identifikationsfigur taugen die Protagonisten und Protagonistinnen nicht. Es könnte sein, dass das gerade die Stärke des Romans ist. Und dass Nell Zink ihre Kraft vielleicht gerade daraus schöpft, alles Mögliche aufs Korn zu nehmen. Auch sich selbst.

Virginia Nell Zink Michael Kellner (Übers.), Rowohlt 2019, 320 S., 22 €

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