Jung und depressiv

Burn Out Viele Studierende kämpfen mit psychischen Erkrankungen. Druck, Zweifel und Zukunftsangst tragen dazu bei
Ausgabe 28/2019
Jung und depressiv

Illustration: der Freitag

Als er anfing zu studieren, ging es Chris noch gut. „Es war ein Neuanfang, mit dem Gefühl, alles in der Hand zu haben.“ Doch schon im ersten Semester fühlte er sich überfordert. Chris studierte Meteorologie, vor allem die mathematischen Fächer machten ihm zu schaffen. Der Leistungsdruck war von Anfang an da: „fünf Vorlesungen, dazu jede Woche drei Hausübungszettel, drei Präsenzübungen, das physikalische Anfängerpraktikum; Laborversuche mit Vorbereitung und Testat, anschließend einige Seiten Auswertung“. Chris schien für nichts anderes mehr Zeit zu haben. Trotzdem war er dem Stoff immer weniger gewachsen.

„Ich kann gar nicht mit Sicherheit sagen, ob ich das Abgleiten in die Depression bewusst erlebt habe“, sagt Chris, der nicht mit seinen vollständigen Namen in der Zeitung erscheinen will, über diese Zeit. „Mir scheint es eher so, als hätte ich mich mitten im Loch auf einmal umgesehen und festgestellt, dass hier etwas gewaltig schiefgeht.“ Die Zuversicht, mit der Chris ins Studium gestartet war, war weg. Er schlief schlecht, grübelte den ganzen Tag, war in jeder Hinsicht unglücklich. „Spätestens bei den detaillierten Suizidgedanken hätte es klingeln sollen.“

Im Rückblick sieht der 33-Jährige, dass er damals tief in einer schweren depressiven Episode gesteckt haben dürfte. „Der Gedanke an ein ‚Ende‘ war sehr real. Ich wollte nicht mehr. Ich wollte mir allerdings auch nicht eingestehen, möglicherweise krank zu sein.“ Was ihm früher Freude bereitete, ließ ihn jetzt kalt. „Ich kam mir vor wie ein Schatten: Ein Schatten ist da, er wird von seiner Umgebung beeinflusst – aber er selbst hinterlässt keinerlei Spuren.“

Eine ausgewachsene Depression, wie Chris sie hat, ist selten. Doch Depressions- und Burn-out-Symptome sind bei Studierenden weitverbreitet, wie eine Studie der Freien Universität Berlin und der Techniker Krankenkasse voriges Jahr feststellte. „Studierende sind ja eigentlich eine positive Selektion: Sie kommen eher aus den höheren Schichten, wo die Gesundheit besser ist“, sagt der Gesundheitswissenschaftler Burkhard Gusy, der einer der beiden Studienleiter war. „Deshalb müsste man erwarten, dass die psychische Gesundheit entsprechend gut ist – ist sie aber nicht.“

Ego-Trip im Hörsaal

Laut der Studie leidet jeder vierte Studierende unter starkem Stresserleben oder Erschöpfung. Beides kann Vorbote eines Burn-outs sein. Für weibliche Studierende ist die psychische Belastung besonders hoch, jede fünfte Studentin gibt an, unter einer „generalisierten Angststörung zu leiden“, jede sechste zeigt Anzeichen eines depressiven Syndroms.

„Prüfungsdruck, Zweifel und Zukunftsangst“, für viele Studierende ist das ein Problem, sagt Gusy. Und viele stünden „nach dem Studium auch mit hohen Bafög-Schulden da. Da lastet ein enormer Druck auf den jungen Hochschulabsolventen, teilweise auch durch die hohen Ansprüche an sich selbst. Das kann Ängste und schlimmstenfalls eine Depression hervorrufen.“ Der Arbeitsdruck ist ebenfalls ein Faktor. „Dieses Bild des feiernden Studenten, der morgens nicht rauskommt und abends nicht reinkommt, stimmt nicht“, so Gusy. „Der Zeitaufwand des Studiums soll einer Vollzeittätigkeit entsprechen, bei einigen Fächern ist das noch mehr.“ Das sei kein Problem, solange „man Zeit hat, sich zu erholen“. Aber wenn diese Zeit fehlt, wird es riskant. „Geht das immer so weiter, führt das dazu, dass man erschöpft ist und krank werden kann.“

Chris gibt nicht dem Studium allein die Schuld für seine Erkrankung. Doch die Belastung an der Hochschule hat ihn in einen Teufelskreis geführt. „Mit einer damals weniger präsenten Vorbelastung ging ich ins Studium. Dort stieß ich auf Probleme; meine Vorbelastung trat deutlicher hervor, erschwerte das Studium – und dies wiederum verschlimmerte die Symptome.“ Bei einer schweren Depression, wie Chris sie hat, wirken zahlreiche Faktoren zusammen. Häufiger treten schwächere Formen der durch Stress bedingten Erschöpfungsdepression auf, die man auch Burn-out nennt. „Die meisten Psychiater würden sagen, dass Burn-out eine Form der Depression ist“, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Er selbst analysiert das Burn-out vor allem unter dem Aspekt der Entfremdung. Das Phänomen zeichne sich durch „Resonanzverlust“ aus: ein Gefühl der Unverbundenheit, das sich einstellt, wenn „man nicht mehr lebendig verbunden ist mit der Welt, in der man lebt“. Besonders der Studienbeginn gleiche „einem Drehbuch für die Herstellung von Entfremdung“. Wenn junge Menschen anfangen zu studieren, ziehen sie oft in eine neue Stadt. Dort „sind sie erst mal ganz allein, und das Leben ist destrukturiert. Sie haben weder eine feste Tagesstruktur noch eine feste Freundesstruktur.“

Dazu kommt der Erwartungsdruck, der auf vielen Studierenden lastet. Rosa beobachtet, dass sich im Studium „sowohl Beschleunigung als auch Varianz“ stark erhöht haben. „Die Zahl der Erwartungen, die die Studierenden auf sich gerichtet fühlen, nimmt zu. Wir erwarten von jungen Leuten, dass sie, bevor sie einen Schritt abgeschlossen haben, immer schon wissen, was sie als Nächstes machen. Wir haben alle Nischen erodiert.“

Maria*, die in Berlin Psychologie studiert und seit einiger Zeit wegen Anorexie in Behandlung ist, sieht das ähnlich. Schon gleich zu Beginn des Studiums wurde sie gewarnt, nur mit guten Noten eine Chance auf einen Master-Studienplatz zu haben. Der Arbeitsdruck im Studium sei dann auch „ganz schön heftig“ gewesen, man sei auch sehr auf sich selbst angewiesen. „Ich habe wie viele Studenten einen hohen Leistungsanspruch“, sagt sie, auch daher „kommen, glaube ich, diese Phasen der Depression. Es ist einfach viel zu viel Stress. Man hat auch für seine Freizeitaktivitäten keine Zeit mehr. Ich sehe so wenige Freunde momentan, meine Familie sehe ich auch ganz selten, und viel unternehmen kann ich auch nicht.“ Selbst wenn die Anfang Zwanzigjährige am Wochenende mal nichts zu tun hat, vom Stresspegel kommt sie nicht runter.

Stress und Arbeitsbelastung sind freilich nichts Außergewöhnliches in unserer Gesellschaft. Menschen, die eine Ausbildung absolvieren oder fest angestellt sind, geht es nicht unbedingt besser, sagt Rosa. Doch die Probleme stellten sich für sie in anderer Form. Man leidet dann vor allem an der „Nichtfreiheit“, daran, „dass man morgens um acht am Arbeitsplatz sein muss und der Chef gibt den Takt vor“. Bei den Studierenden jedoch sei dieses Verhältnis nach innen verlagert: „Sie haben ja alles selbst gewählt. Es gibt niemanden, den sie verantwortlich machen können, auch nicht für die negativen Aspekte.“ Gerade diese Freiheit mache Studierende zu „schuldigen Subjekten“: Immer sind sie unzulänglich, „sie haben nicht genug gelesen, sie haben den Essay nicht gut genug gemacht, sie haben sich noch nicht um den Praktikumsplatz gekümmert, sich nicht um den Auslandsplatz beworben, haben die Fremdsprache nicht gelernt, und dann sollen sie auch noch Sport und Yoga machen und lauter solche Sachen“. Die Studierenden würden all diese Erwartungen als legitim empfinden – ihnen nicht zu genügen, ist dann nicht entschuldbar.

Rosa sagt, viele gesellschaftliche Trends zeigten sich „im studentischen Dasein in exponentieller Form“. Der Soziologe hat den Begriff der „Steigerungsgesellschaft“ geprägt, die durch stetige Dynamik und Beschleunigung bestimmt ist. „Das übersetzt sich in Konkurrenzdruck und Optimierungserwartungen, die ständig zunehmen.“

Auch Maria sagt, dass sie viel Konkurrenzdenken unter ihren Kommilitoninnen beobachte. Es „gibt kein Gemeinschaftsgefühl, jeder macht seinen Ego-Trip“. Das Studium, die Noten stünden immer im Mittelpunkt. „Schon in meiner Abi-Zeit wurde mir immer vermittelt, du musst das Abi schaffen und studieren, sonst bist du nichts und erreichst nichts im Leben.“ Sie selbst hat in der Therapie gelernt, wie man sich vom Druck abgrenzt. Die meisten seien aber zu stolz, sich Hilfe zu holen. „Viele greifen zu Drogen, kiffen und trinken viel, oder sie schießen sich am Wochenende total ab, um sich mal einen Moment frei zu fühlen.“

Kiffen, trinken, abschießen

Chris konnte sich über Jahre hinweg nicht eingestehen, krank zu sein. So was passiert nur anderen, dachte er. „Ich wollte keine Mücke zu einem Elefanten machen und ich wollte nicht krank sein. Dementsprechend habe ich auch keine Hilfe gesucht. Ich war es ohnehin gewohnt, mit einer Maske durch die Gegend zu laufen.“ Erst nach drei Jahren wechselte er das Studienfach. Damit ging es ihm erst mal besser. Dann starb der Vater, weitere Todesfälle in seinem Umfeld folgten. Irgendwann musste er sich eingestehen, dass er schon lange an einer Depression litt. Für ein paar Monate war er in einer Klinik, bis heute macht er eine ambulante Therapie. Langsam geht es ihm besser, sein Studium will er bald abschließen.

Maria hat sich zuerst geschämt, zum Therapeuten zu gehen. „Ich kenn das von mir selbst: Du kannst dich extrem gut manipulieren, dir einreden, dass alles gut ist, dass du das schon hinkriegst. Du merkst dann nicht, wie schnell du an einem Punkt bist, an dem es nicht weitergeht. Da irgendwie die Stärke zu finden und zu sagen, ich hole mir jetzt Hilfe, ist sehr schwer.“ Ihre Anorexie begann schon während der Schulzeit, besonders in der Abiturphase war der Leistungsdruck groß. „Ich war nur noch mit der Schule beschäftigt, habe gar nicht mehr gelebt.“ Danach machte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Krankenhaus. Auch dort herrschte Druck: unterbezahlte Krankenpflegerinnen in einem stressigen Job. „Da hatten auch viele ein Burn-out.“

Einer aktuellen Studie der pronova BKK zufolge haben mehr als die Hälfte der Deutschen potenzielle Burn-out-Symptome: anhaltende Müdigkeit, innere Anspannung, Lustlosigkeit, Schlafstörungen. Jeweils etwa die Hälfte der Befragten grübelt „über ihre Arbeit“, schläft schlecht und sieht für sich selbst ein „mäßiges bis hohes Burn-out-Risiko“. Das Studium bereitet junge Menschen also tatsächlich auf den Rest ihres Lebens vor.

Johannes Simon ist freier Autor. Er rezensierte im Freitag zuletzt Francis Fukuyamas Identität

*Name geändert

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