Alles auf Abstand

Isolation Online-Dating boomt in der Krise. Fremde Menschen treffen, sie gar berühren? Das ist derzeit vor allem eines: Nostalgie
Ausgabe 17/2020
Alles auf Abstand

Illustration: Ira Bolsinger für der Freitag

Manchmal ist die „gute alte Zeit“ nur ein paar Wochen alt. Ende März meldete die Dating-App Tinder einen Swipe-Rekord. „Swipen“ heißt der Vorgang, bei dem man sich für oder gegen eine von der App vorgeschlagene Person entscheidet – meist innerhalb von wenigen Sekunden. Drei Milliarden dieser Kurzentscheidungen wurden laut Tinder am 29. März getroffen. Und der Kontakt wird intensiver. Laut dem Unternehmen hat sich die durchschnittliche digitale Gesprächsdauer zwischen zwei Menschen auf der Plattform um knapp ein Viertel gesteigert. Auch die Partnervermittlung Parship verzeichnet seit den Kontaktbeschränkungen vermehrte Aktivität. In der Schweiz gibt es gar eine Corona-spezifische Dating-App namens „Be my Quarantine“. Aber: alles auf Abstand. Fremde Menschen treffen, sich berühren? Diese Vorstellung ist momentan Nostalgie.

Diese gute alte Zeit – eine Zeit vor dem Swipe – ist nun auf unbestimmte Zeit vorbei. Aber war sie jemals wirklich gut? Online-Dating verspricht einerseits eine nie gekannte Freiheit bei der Partnersuche, nicht erst seit Tinder. Es macht den Kontakt andererseits flüchtiger, frustrierender – und reduziert Menschen noch stärker auf Äußerlichkeiten. Was macht das mit unseren romantischen Beziehungen?

Liebe für Strumpfhosen

Um zu erklären, was sich mit Online-Dating am modernen Paarungsverhalten geändert hat, muss man ein wenig ausholen. Schon lange vor der Erfindung von Tinder hat sich einiges getan: Die Individualisierung, die Auffächerung der Lebensstile, die Säkularisierung – eben alles, was uns heute zu freieren Menschen macht als unsere Großeltern – haben denselben Ursprung wie Tinder, OkCupid und Konsorten. Sie alle sind Symptome dessen, was der Soziologe Ulrich Beck Anfang der 2000er Jahre die „Zweite Moderne“ nannte. Er meinte damit eine Modernisierung der Moderne, die sich vor allem darin äußert, dass bis dato gültige Grenzen ihre Gültigkeit verlieren. Vieles, was als unerschütterlich galt, wurde ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wähl- und fehlbar: die Nationalstaatlichkeit, der Verlauf von Erwerbsbiografien, die Konstruktion von Kleinfamilien, die Geschlechtergrenzen, die Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit – und auch die Art und Weise, wie wir romantische Beziehungen suchen und führen.

Das Problem dabei: All das passiert so schnell, dass unsere romantischen Erwartungen ein paar Updates hinterherhinken. Und das führt zu einer Diskrepanz zwischen dem, was wir erwarten, und dem, was wir bekommen. Das liegt unter anderem daran, dass die romantische Liebe mit Idealen überladen ist: Sie soll perfektes Teamplay sein, gleichzeitig emotional und erotisch, bodenständig und aufregend. Sie soll eine lebenslange Liebesaffäre mit einem Seelenverwandten sein, mit dem man alles teilt – und der im besten Fall auch auf Instagram super aussieht. Kein Wunder, dass so manch eine*r sich überrumpelt fühlt, wenn diese Erwartungen während der Beziehungsanbahnung plötzlich auf ihm oder ihr landen.

In der Serie Mad Men sagt Protagonist Don Draper, Kreativchef einer Werbefirma in den 1950ern, einmal treffend: „Was Sie Liebe nennen, wurde von Kerlen wie mir erfunden, um Strumpfhosen zu verkaufen.“ Diese Strumpfhosenversion der Liebe basiert auf der Vorstellung von Verliebtheit als unerklärliche Schicksalsregung, die zwei verwandte Seelen im Sonnenuntergang zusammenführt. Und wie suchen wir heute nach diesem mystischen Zustand? Mit Rationalität! Das Swipe-Prinzip basiert auf einer simplen „Hot or Not“-Entscheidung, die der Logik von Angebot und Nachfrage gehorcht, romantischer Massenkonsum wie am Fließband. Auf diesem Online-Dating-Markt versuchen wir, mithilfe von rationalen und ökonomischen Denkweisen ein romantisches Ideal zu erfüllen, das gerade davon lebt, angeblich frei von rationalem und ökonomischem Denken zu sein.

Auf dem heterosexuellen Online-Dating-Markt werden durch diese Widersprüche für Frauen und Männer unterschiedliche Formen von neuem Leid produziert. Die Soziologin Eva Illouz – die sich wie keine Zweite mit Gefühlen in der Gegenwart beschäftigt – formulierte es mal so: „Tinder und andere Apps verstärken, was an Heterosexualität nicht stimmt.“ Das Match-Prinzip, das bei den meisten Dating-Apps genutzt wird, hat Dating für Frauen erst mal positiv revolutioniert, denn es schützt vor ungewollten Anfragen und damit vor Belästigung. Dieses Prinzip hat die App Bumble radikalisiert: Hier dürfen nur die Frauen eine Konversation mit dem Match initiieren, Männer bleiben zunächst passiv. So sollen laut Bumble „die traditionellen Geschlechterrollen beim Daten aufgemischt“ werden und so zumindest einer der Faktoren aufgelöst werden, die Online-Dating zu einer unerfreulichen Angelegenheit machen können.

Das belastet Männer sehr

Für Männer bedeutet das Match-Prinzip im Umkehrschluss oft das Entstehen von starken Konkurrenzverhältnissen: ein neues Ausmaß der Hierarchisierung durch Attraktivität, bei der jene Männer verlieren, die dem Schönheitsideal nicht entsprechen. Das belastet manche Männer so sehr, dass sie in Eigenregie Studien anfertigen, um dieses Phänomen zu beleuchten. So hat es ein anonymer Mann namens „Worst-Online-Dater“ gemacht, der nach eigenen Angaben Sozialforscher ist. Auf dem englischsprachigen Portal Medium hat er 2015 eine Studie veröffentlicht, die Männern, die nicht wunderschön sind, die Hoffnungslosigkeit auf Tinder vorrechnet. Laut seiner Erhebung kämpfen auf Tinder 80 Prozent „durchschnittlich aussehender Männer“ um 22 Prozent der Frauen – weil die restlichen 78 Prozent der Frauen nur an den 20 Prozent der attraktivsten Männer interessiert sind. Auch wenn die Studie selbst eher fragwürdig ist – allein diese Formulierung zeigt deutlich: Sexuelle Attraktivität wird nun öffentlicher ausgehandelt als jemals zuvor.

Diese Tatsache macht Attraktivität zu einem diffusen Statusmerkmal. Eva Illouz nennt das „erotisches Kapital“. Und das funktioniert für Männer und Frauen unterschiedlich. Für Männer übersetzt es sich oft in die Anzahl gesammelter sexueller Erfahrungen: je mehr, desto besser. Für Frauen ist es meist – aber zum Glück nicht mehr so sehr wie früher – umgekehrt. Sie werden für häufig wechselnde Sexualpartner verurteilt (der Freitag 10/2020).

Für Frauen ist der romantische Erfolg außerdem viel stärker mit Selbstwert verknüpft als für Männer: denn die weibliche Sozialisation lässt nur selten eine gleichwertige Identifikation mit beruflichem Erfolg, guten Freundschaften oder dem Singledasein zu wie bei Männern. Die alternde Single-Frau wird anders betrachtet als der alternde Single-Mann. Das macht die ganze Gelegenheit zu einer höchst riskanten Wackelpartie, bei der für Frauen oft mehr auf dem Spiel steht als für Männer. Und scheitert dann die Liebe, dann geht der Selbstwert mit ihr. Und sie scheitert immer öfter. Manchmal schon vor dem ersten Treffen. Auch das ist eine Folge davon, dass sich frühere Grenzen verändern. Nur, dass in diesem Fall eine neue Grenze entsteht: die zwischen Liebe und Sex. Weil romantische Liebe und Sex nicht mehr als untrennbar verknüpft, sondern als zwei voneinander getrennte Bereiche betrachtet werden, entstehen immer mehr Mischformen von Begegnungen, die inzwischen gesellschaftlich anerkannt sind. Diese bewegen sich auf einer Skala zwischen Hochzeit und One-Night-Stand: Friends With Benefits, Polyamorie, offene und halboffene Beziehungen oder der allseits bekannte Status „Wir verhalten uns wie ein Paar, aber definieren es nicht“, den Illouz eine „Nichtbeziehung“ nennt. Alles ist möglich. Und das ist eigentlich toll! Aber es führt auch dazu, dass sich oft zwei Menschen mit sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen gegenübersitzen – besonders, wenn sie sich über eine App kennengelernt haben.

Dass wir uns trotzdem nicht nach der „guten alten Zeit“ – vor Online-Dating und vor dieser Vielfalt an Optionen – zurücksehnen sollten, wird derzeit besonders offensichtlich. Es wäre romantischer Fundamentalismus. Mit dem Chaos geht nämlich ein bisher ungekanntes Maß an Freiheit einher – zugegeben eine Freiheit, an die man sich gewöhnen muss. Dafür bezahlen wir mit frustrierenden Online-Dating-Erfahrungen – aber es ist immer noch besser, als in einer Welt mit noch mehr Grenzen zu leben, die die momentane Isolation für viele noch schlimmer machen würde.

Johanna Warda ist freie Journalistin aus Berlin und schreibt über Feminismus und Digitalkultur

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