Braucht Europa einen eigenen militärischen Hammer?

EU-Verteidigungsunion Sicherheitspolitik und das Prinzip der Gewaltfreiheit

Als sicherheitspolitische Antwort auf den Unilateralismus der USA und den Hegemonieanspruch der zur Zeit dort herrschenden neokonservativen "Crazies" wird im alten Europa wieder mehr über eine "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" nachgedacht. Nach dem Völkerrechtsverbrechen des Irak-Krieges wurde gar das Verlangen nach einer autonom handlungsfähigen Europäischen Verteidigungsunion laut, die auf eine Emanzipation Europas von der qua NATO sichergestellten Präponderanz der USA hinausliefe.

Solch Ansinnen ruft heftige Reaktionen unter Zeitgenossen aus höchst disparaten Fraktionen des politischen Spektrums hervor. Zum einen wittern in der Wolle gefärbte Atlantiker prompt Anti-Amerikanismus und malen die Schrecken "schlechtester gaullistischer Tradition" an die Wand. Zum anderen scheint die Vision einer gaullistisch inspirierten (Verteidigungs-)Union der Europäer den fundamentalpazifistischen Nerv zu treffen. Reflexartig werden als vermeintliche Alternativen gegen solch eine, als "spinnert" apostrophierte Idee Forderungen nach der "Wiedererweckung des Völkerrechts", der "weltweiten Stärkung der UNO-Rechtsstrukturen" und der "Wiedererzwingung (sic!) einer internationalen Politik, die auf der Geltung der UN-Charta und auf friedlichem Interessenausgleich beruht", ins Feld geführt. Dahinter steckt gemeinhin die Vorstellung, eine internationale Rechtsordnung und der Frieden schlechthin ließen sich bewahren, ohne notfalls auf das Mittel der Gewalt zurückgreifen zu können - gewaltfrei also.

Doch handelt es sich bei dieser Vorstellung lediglich um einen schönen Traum, wie schon 1795 der Königsberger Philosoph Immanuel Kant in seiner nach wie vor epochalen Schrift Zum ewigen Frieden dargelegt hat. Denn: "Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand ... Er muss also gestiftet werden ...". Kant verweist auf zweierlei: Zum einen darauf, dass dort, wo mehrere Akteure in einer endlichen Raum-Zeit-Sphäre mit begrenzten Ressourcen leben und handeln, unvermeidlich Konflikte existieren. Zum anderen auf die Notwendigkeit, den barbarischen, weil rechtlosen Naturzustand zwischen den Menschen, in dem Konflikte durch die Macht des Stärkeren - qua Faustrecht - entschieden werden, dadurch zu überwinden, dass alle sich gemeinschaftlich der Herrschaft des Rechts unterwerfen. Einzig eine Rechtsordnung ermöglicht die Regulierung von Konflikten auf zivilisierte Weise - nämlich mittels allgemeinverbindlicher Rechtsregeln. Das Recht sichert demnach den Frieden, indem es den Naturzustand des bellum omnium in omnes zwischen den Menschen, wie ihn der englische Philosoph Thomas Hobbes analysiert hat, überwindet. Frieden ist daher ohne Rechtsordnung schlechterdings nicht denkbar.

Um Frieden zu stiften und die Rechtsordnung gegenüber demjenigen durchzusetzen, der sich ihr widersetzt - dem Regelbrecher also -, bedarf es durchaus der Möglichkeit zu Zwang und Gewalt. Die entscheidende, ja zwingende Konklusion lautet daher, dass Frieden nicht identisch ist mit einem Zustand der Gewaltfreiheit oder Gewaltlosigkeit. Nicht durch das Maß, sondern die Rechtmäßigkeit respektive Unrechtlichkeit von Zwang und Gewalt unterscheiden sich Krieg und Frieden. "Fiat iustitia, pereat mundus", postulierte Kant in seinem Traktat und paraphrasierte dieses Diktum im Deutschen mit dem Satz: "Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme der Welt mögen auch insgesamt darüber zugrundegehen." Frieden ist demnach der Zustand, in welchem Zwang und Gewalt allein zur Sicherung des Rechts angedroht und notfalls angewendet werden. Anders ausgedrückt: Die Möglichkeit von Frieden überhaupt basiert auf der Wirkungsmächtigkeit einer Rechtsordnung, die von der Fähigkeit abhängt, sie notfalls mit staatlichen Gewaltmitteln auch gegen Widerstreben durchzusetzen.

Diese eher abstrakten rechtsphilosophischen Überlegungen besitzen durchaus praktische Relevanz, wie ein Blick auf den Artikel 1 des Grundgesetzes offenbart. Dort heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Auch die Bundesrepublik Deutschland konstituiert sich entsprechend der Definition Kants als "Versammlung von Menschen unter Rechtsgesetzen". Um diesen, die Menschenwürde garantierenden Rechtsnormen Geltung zu verschaffen, bedient sich der Rechtsstaat zwar nicht ausschließlich und nicht einmal in erster Linie, aber eben auch einiger Instrumentarien institutionalisierter Gewalt in Gestalt von Polizei und Justiz oder sogar - im Falle des inneren Notstandes (Art. 91 i.V.m. Art 87, 4 GG) - des Militärs. In ihrem Handeln sind diese Institutionen an Recht und Gesetz gebunden. Zudem kommt der Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mitteln überragende Bedeutung zu. Die Polizei ist in Extremsituationen von Notwehr und Nothilfe befugt als ultima ratio auch tödliche Gewalt anzuwenden, zum Beispiel in Gestalt des sogenannten "finalen Rettungsschusses". Kurzum: Um ihre vornehmste Aufgabe zu erfüllen - Frieden unter den Staatsbürgern zu stiften - ist die Staatsgewalt stets an das Gebot der Verhältnismäßigkeit, mitnichten an das Prinzip der Gewaltlosigkeit gebunden.

Was für innerstaatliche Friedensstiftung unter Staatsbürgern als individuellen Rechtssubjekten gilt, trifft analog für eine internationale Friedensordnung zwischen den Staaten als kollektiv konstituierten Völkerrechtssubjekten zu. Den Kristallisationskern des heutigen Völkerrechts bildet die UN-Charta, deren grundsätzliches Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen zweifelsfrei die raison d´être der Weltorganisation ist. Dennoch geht eine Idealisierung der Vereinten Nationen als einer Institution der organisierten Gewaltlosigkeit meilenweit an der Realität vorbei. Ebenso wie die innerstaatliche Rechtsordnung birgt auch die völkerrechtliche Ordnung in Form der UN-Charta ein ausgefeiltes Instrumentarium von Sanktionsmitteln, um ihr auf der Weltbühne Geltung zu verschaffen - immer vorausgesetzt der Sicherheitsrat bringt den Willen und die Einigkeit hierfür auf.

Die einschlägigen Kautelen finden sich im Kapitel VII der Charta. In 13 Artikeln wird dort akribisch geregelt, welche "Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen" der Sicherheitsrat zur "Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" ergreifen darf. Diese reichen von der "Feststellung der Friedensgefährdung" (Art. 39) über "friedliche Sanktionsmaßnahmen" (Art. 41) bis hin zu "militärischen Sanktionsmaßnahmen" (Art. 42). Des weiteren ist dort festgelegt, dass alle UNO-Mitgliedstaaten verpflichtet sind, "... dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung [zu] stellen, Beistand [zu] leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts [zu] gewähren" (Art. 43). Auch ein ständiger Generalstabsausschuss ist vorgesehen, "um den Sicherheitsrat in allen Fragen zu beraten und zu unterstützen, die dessen militärische Bedürfnisse zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, den Einsatz und die Führung der dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte, die Rüstungsregelung und eine etwaige Abrüstung betreffen" (Art. 47). Fürwahr ein mit Augenmaß definiertes Arsenal an militärischen Gewaltmitteln, das die UN-Satzung für den Sicherheitsrat bereit hält. Der ist völkerrechtlich als einzige Instanz legitimiert, militärische Gewalt zur Durchsetzung von Völkerrecht anzuwenden. Daraus folgt, dass die UNO mitunter in sehr martialischem Gewande auftreten darf. Wer nun die Geltung ihrer Charta in der internationalen Politik wiedererzwingen will, muss sich ergo im Klaren sein, dass er damit unvermeidlich auch für die Anwendung militärischer Gewalt gemäß den in der UN-Charta fixierten Regularien plädiert - aber eben auch allein gemäß den Regeln dieser Charta!

Die letzte Überlegung führt nun direkt zur Konzeption einer zukünftigen Europäischen Verteidigungsunion. Wenn die Diagnose zutrifft, dass es sich bei den USA um eine immer unverhohlener imperialistisch agierende Weltmacht handelt, die unter dem Tarnbegriff des "Krieges gegen den globalen Terrorismus" nichts weiter als die ökonomische Kolonialisierung des Planeten mit militärischen Mitteln betreibt und dabei zugleich den Völkerrechtsbruch in Serie zum Prinzip erhebt, dann liegt es im existenziellen Interesse Europas, nach einer tragfähigen Alternative zu suchen. Daraus folgt nachgerade zwingend, eine Europäische Verteidigungsunion eben nicht als Abziehbild von US-Militärmacht zu entwerfen - auch nicht im Miniaturformat, wie es so manchem bellizistisch tönenden Wilhelm Zwo aus dem politischen Establishment dieser Republik vorschweben mag.

Welchem Maßstab aber müsste eine solche "Verteidigungsunion" genügen, nach welchen Kriterien wäre sie zu konstruieren? Die Conditio sine qua non stellt fraglos eine strikte Bindung an das Völkerrecht dar - und zwar des in der UN-Charta definierten, nicht des von juristischen Zuhältern nach der jeweiligen Interessenlage zurechtgebogenen. Im Klartext: Innerhalb einer Europäischen Verteidigungsunion dürfte militärische Gewaltanwendung allein gemäß Art. 51 der UN-Charta zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung sowie mit einem eindeutigen Mandat des Sicherheitsrates oder der OSZE als regionaler Struktur der UNO erfolgen. Unzweifelhaft ausgeschlossen bleiben müsste jegliche Form der Selbstermächtigung wie sie in der Vergangenheit bereits mehrfach durch die US-dominierte NATO praktiziert wurde.

Darüber hinaus wären die EU-Staaten gefordert, ihre gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen - also Gegenstand und Geltungsbereich einer künftigen "Verteidigungsunion" - zu definieren. Mindestens zwei Faktoren wären diesbezüglich zu beachten: Nicht einer verengten militärischen Sichtweise anheim zu fallen und in der Folge nach dem Muster USA jedes politische Problem als Nagel zu definieren, bloß weil man über einen schlagkräftigen militärischen Hammer verfügt. Auch sollte der militärische Interessenhorizont der EU keinesfalls globale Dimension besitzen, sondern regional begrenzt bleiben. Die für Europa sicherheitspolitisch relevanten Problemlagen existieren nämlich ohnehin an seiner Peripherie.

Während sich im Osten mittlerweile dank komplementärer Interessen mit der Russischen Föderation der "Beginn einer wunderbaren Freundschaft" und stabilen strategischen Partnerschaft abzeichnet, bedarf die Lage in Südosteuropa sicherlich bis auf weiteres eines stabilisierenden Engagements. Darüber hinaus hat die EU mit der unmittelbar bevorstehenden Eingliederung der osteuropäischen Beitrittsländer eine Herkulesaufgabe vor sich, der demnächst die nicht minder gewaltige Herausforderung einer Integration des restlichen Südosteuropas sowie der Türkei folgen dürfte. Auch tangieren teils hochbrisante Konfliktlagen der nahöstlichen und nordafrikanischen Mittelmeeranrainer die Europäische Union. Auf all diesen Konfliktfeldern verbieten sich zwar a priori militärische Lösungen, dennoch kann es Situationen geben, in denen der Rückgriff auf das Militärpotenzial einer Europäischen Verteidigungsunion die letzte Option darstellt, um der Politik wieder eine Chance zu geben, wie das mit der unter EU-Ägide in Mazedonien laufenden Mission Concordia möglich wurde.

Der Schlüsselbegriff einer möglichen "Verteidigungsunion" lautet demnach: Begrenzung - und zwar in mehrfacher Hinsicht - es geht nicht um Hegemonie qua militärischer Machtentfaltung nach dem Beispiel USA, sondern im Gegenteil um die friedenssichernde und friedensverträgliche Beschränkung militärstrategischer Ambitionen der EU. Nicht "Frieden schaffen mit aller Gewalt", sondern: "Der Frieden ist der Ernstfall" muss die Devise lauten. Es geht nicht darum, die Sicherheit der EU "am Hindukusch" zu verteidigen, wie ein bundesdeutscher Verteidigungsminister einem staunenden Auditorium weiszumachen versucht, sondern allenfalls im Mittelmeer und an dessen Küsten. Der Aktionsradius einer Europäischen Verteidigungsunion bliebe also geographisch limitiert. Schließlich gilt, dass ein militaristischer Größenwahn à la USA der raison d´être einer Verteidigungsunion völlig zuwiderlaufen würde, offenbart sich doch mittlerweile immer deutlicher, dass die Absurdität einer derartigen Politik genau die Probleme generiert, die sie zu bewältigen vorgibt. Als durchaus legitim erscheint dagegen ein militärisches Residualpotenzial, das einer strategisch begrenzten Zielsetzung operativ genügen muss. Aus bitterer historischer Erfahrung klug geworden sollte das alte Europa demzufolge der Maxime gehorchen: "Frieden schaffen mit möglichst wenigen Waffen".

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

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