Sven Kacirek ist ein musikalischer Orchideensammler. Einer, der mit Mikrofon und Aufnahmegerät in entlegene Winkel der Welt reist, um dort nach besonderen Klängen zu suchen. Kacirek wurde als Schlagzeuger an mehreren Jazz-Hochschulen ausgebildet, doch die festgefahrenen Strukturen von Jazz und Klassik langweilen den 40-jährigen Hamburger. Lieber geht er mit anderen experimentierfreudigen Grenzgängern auf die Bühne, Musikern wie Nils Frahm und Hauschka, dem auf Barbados aufgewachsenen Londoner Shabaka Hutchings oder auch John McEntire von Tortoise. Große Namen, aber nur in den unzähligen kleinen Nischen, in denen innovativer Pop heute sein Dasein fristet. Auf seinen Reisen musste Sven Kacirek feststellen, „dass sich der Musikgeschmack junger Menschen global sehr stark angeglichen hat“.
Sein neues Album heißt Songs From Okinawa und ist ein behutsames Experiment. Zusammen mit der Londoner Musikerin und Musikwissenschaftlerin Mina Mermoud reiste Kacirek nach Okinawa, wo noch heute eine eigenständige regionale Musikkultur existiert. „Selbst in Naha, der größten Stadt der Insel, läuft nicht nur HipHop oder R&B. In Hinterhöfen und aus Wohnzimmern hört man oft das Sanshin, ein dreisaitiges Volksinstrument, dessen Klang an ein Banjo erinnert“, sagt Kacirek. Über Wochen hat er auf Okinawa mit Musikern gesprochen, einige davon haben traditionelle Lieder in sein Mikrofon gesungen, zum Teil begleitet von den minimalistisch tropfenden Tönen des Sanshin.
Diese Aufnahmen bilden das Fundament von Songs From Okinawa, quasi den authentischen Teil. Doch erst zusammen mit den Klängen, die danach im Studio entstanden, entwickelt diese Musik ihre Poesie. Mit Marimba, Stein-Xylofon, Klavier und weiteren, oft mit Bürsten bearbeiteten Klangmaterialien erzeugt Kacirek einen eng verzahnten klickernden und klingelnden Sound. Eine Art Ambient mit akustischen Mitteln. Sehr leicht, fast schwebend trägt dieser Sound den traditionellen Gesang in eine ortlose Gegenwart. Und trotzdem ist diese Musik durchdrungen vom Geist der tief wurzelnden Lieder.
Gestretchte Stimmbänder
Andere Komponisten und Musiker wie Jim O’Rourke oder Markus Popp haben bei Kollaborationen mit japanischen Musikern Ähnliches versucht, doch Kacirek taucht tiefer ein in die Traditionen. Ihm geht es um mehr als einen lockeren Jam mit Einheimischen oder ein fröhliches Tänzchen nach ein paar Gläsern Sake: „Es war nicht leicht, einen Eingang in diese Kultur zu finden, deren ästhetische Konzepte oft sehr verkopft sind. In Kenia, wo ich unter anderem das Album The Kenya Sessions aufgenommen habe, sind die Leute schnell beim Tanzen, sie singen und reden gut gelaunt durcheinander. Auf Okinawa und in vielen anderen asiatischen Musikkulturen geht es dagegen sehr rational und kontrolliert zu. Aber genau diese Fremdheit zieht mich auch an.“
Vor allem der Gesang ist dabei für westliche Ohren gewöhnungsbedürftig. Ein bestimmter Musikstil aus Okinawa basiert zum Beispiel auf dem strengen Konzept, dass ein aus 14 Silben bestehender Text über eine Zeitspanne von acht Minuten gedehnt werden muss. Also werden Stimmbänder gestretcht, Töne gehalten und ein tiefes Tremolo eingesetzt, um Bewegung in die Musik zu bringen. Wer sich darauf einlässt, erlebt eine einzigartige Form von Schönheit.
Die erhabene Schlichtheit dieser Musik, die sachte Dekonstruktion vertrauter Klangmuster, ist deutlich näher an aktueller Electronica als an klassischer Folklore. Honest Jons, eins der vielen Labels, auf denen Sven Kacirek seit 15 Jahren veröffentlicht, hat sowohl alte Calypso-, Highlife- und Kwela-Aufnahmen im Programm als auch die futuristischen Tracks von Laurel Halo, Actress oder Moritz von Oswald. Und Pingipung, wo Songs From Okinawa erscheint, beschreibt seinen Output als „Ü-Musik – eine Mischung aus U- und E-Musik“. Wunderbar wunderliche Klänge kommen dabei heraus, oft nur in kleinen Auflagen. Kacirek hat deshalb, schon aus ökonomischen Gründen, immer mehrere Projekte gleichzeitig am Laufen, oft zusammen mit dem ehemaligen Kreidler-Musiker Stefan Schneider. Für die Choreografin Antje Pfundtner produziert er dazu noch Ballettmusiken, etwa eine minimalistische Version von Tschaikowskys Nussknacker-Suite, die unter dem Namen The Nutcracker Sessions auch als Album erschienen ist.
Früher verstaubten solche Orchideenklänge in den überfüllten Regalen kleiner Indie-Plattenläden. Heute sorgen Digitalisierung und kulturelle Globalisierung – die andererseits natürlich viele gewachsene Kulturen zerstört haben – für die weltweite Verfügbarkeit von Alben wie Songs from Okinawa. Diese Perlen zu finden, von denen weniger die Musikmagazine und eher die spezialisierten Blogs berichten, ist nicht einfach und ein ausgesprochen nerdiges Vergnügen. Es braucht Zeit, Wissen und eine große Portion Neugier. Den Namen Sven Kacirek sollte sich jeder merken, der Musik sucht, die die Vergangenheit respektiert und dennoch nicht in ihr kleben bleibt.
Info
Songs from Okinawa Sven Kacirek Pingipung/Kompakt 2015
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