Ein Bürgersöhnchen, das sich von seiner Familie aushalten lässt, ein erfolgloser Dichter, ein Revoluzzer ohne Revolution, ein Jammerlappen – das ist Erich Mühsam in Jan Bachmanns Graphic Novel. Ein Antiheld mit langer Nase, dicker Brille und krakelig wucherndem Bart. Vom kämpferischen Revolutionär Mühsam, der bis heute eine Ikone ist, noch keine Spur. Seine Beteiligung an der Münchner Räterepublik 1918/19 liegt noch in weiter Ferne, auch sein Engagement für die Vereinigung aller linken Kräfte im Kampf gegen die Nazis – und seine Ermordung im KZ 1934. Die Erzählung setzt im Jahr 1910 ein, der 32-jährige Mühsam ist auf Kur in den Schweizer Alpen. Aus Einsamkeit und Langeweile beginnt er, Tagebuch zu schreiben – Zitate daraus bilden das Voiceover zu den Szenen, die der Zeichner frei erdacht hat.
Alles doof, sogar die Berge
Der gelangweilte Mühsam verwendet seine wiedererstarkenden Kräfte darauf, sich zu bemitleiden. Weil es hier statt Alkohol nur Kamillentee gibt. Und weil seine Freunde aus der Boheme weit entfernt sind und die Frauen im Kurhotel lieber ihre Füße auf den freien Stuhl legen, als ihn als Sitznachbarn zu dulden. Spricht ihn doch einmal eine an, wird seine Nase himbeerrot und vervielfacht sich, weil er nicht weiß, wo er hinsehen soll. Dass die Familie, über deren magere Zuwendungen Mühsam unablässig jammert, seine finanzielle Abhängigkeit benutzt, um seinen Lebenswandel zu beeinflussen, ist eine Zumutung! Ebenso die Berge, die ihm die Sicht auf den Horizont versperren, und die schlechte Versorgung mit linken Zeitungen, die ihm den Blick auf das Weltgeschehen verwehrt.
Doch um den Stumpfsinn des Volks in allen Schichten zu erkennen, genügt ihm die Gesellschaft der anderen Kurgäste. Ein Lamento, das nahtlos übergeht in das Selbstmitleid des verkannten Dichters, dessen Talent nicht gewürdigt wird. Das, gepaart mit grenzenlosem Selbstvertrauen, passt eher zu einem Halbwüchsigen als zu einem Mann über 30. Aber genau dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, zwischen revolutionären Gedanken, Wehleidigkeit und verletztem Stolz, Zweifeln und Selbstüberschätzung, prädestiniert den jungen Mühsam zur Comicfigur.
Das Schöne an dieser Mühsam-Figur ist, dass sie die Widersprüche linker Lebensentwürfe auf den Kopf trifft. Es ist leicht, beim Lesen nicht nur über Mühsam, sondern auch ein wenig über sich selbst zu lachen: Man verachtet alles Bürgerliche und beweint zugleich, dass die gesellschaftliche Anerkennung ausbleibt. Man schimpft auf die Hand, die einen füttert, und wagt nicht, sie zu beißen. Natürlich will man die Welt verändern, aber die Zeiten sind nun mal ungünstig. Ausgerechnet Mühsam, aus heutiger Sicht hineingeboren in eine Zeit, in der es von revolutionären Bewegungen nur so wimmelt, verfällt der Nostalgie: Er sehnt sich nach der Vergangenheit, als es „noch eine große revolutionäre Sehnsucht“ gab, wie er sie in den Tagebüchern Karl August Varnhagen von Enses findet, bei deren Lektüre er sich buchstäblich einen runterholt. Das Comic über den Anarchisten in Anführungszeichen nimmt das Klischee des Bohemien mit seinen nostalgischen Tendenzen und Ausflüchten aufs Korn – allerdings nicht böse, sondern voller Sympathie für Mühsam und seinen Weltschmerz. Überhaupt ist das Schmunzeln über sich selbst in Mühsams Tagebuchtext bereits angelegt. Jan Bachmann greift die Ironie auf und überspitzt jede einzelne Episode in diesem Sinne.
Wofür Mühsam von Linken unterschiedlicher Generationen heute verehrt wird, lernt man im Comic nicht. Es ist keine Mühsam-Biografie und sowieso überhaupt nicht didaktisch bemüht. Die widersprüchlichen Mühsam-Bilder haben ihn fasziniert, sagt Jan Bachmann. Für einige ältere Semester ist er der Antifaschist, dessen Bild in der DDR gepflegt wurde. Dass er den Kommunismus marxistischer Prägung kritisierte und sich als Anarchist für ein Rätemodell einsetzte, passte hier nicht ins Bild. Der Staat bemühte sich deshalb mit allen Mitteln, seinen Nachlass unter Verschluss zu halten. Seit 2004 sind seine Texte jedoch rechtefrei und viele davon online verfügbar. Und es sind gerade seine anarchistischen Ideen von der gleichberechtigten Mitbestimmung aller und seine Kritik am Sowjetkommunismus, die ihn für junge Linke wieder interessant machen. So interessant, dass Anfang des Jahres eine Gesamtausgabe seiner Tagebücher im Verbrecher-Verlag erschienen ist.
Er wollt’, er wär Revolutionär
Die Graphic Novel schließt an die Mühsam-Rezeption an und nimmt sich die Freiheit, damit zu spielen – ohne diesen Ausschnitt aus dem Leben des Möchtegernrevolutionärs vom Gesamtbild zu isolieren: Obwohl die späteren Ereignisse nicht Teil der Erzählung sind, sind sie nicht abwesend. Bei aller Ironie ist die Stimmung oft düster. Mühsam oszilliert zwischen trotzigem Hedonismus, Nachdenklichkeit und Schwermut. Nicht immer drehen sich die Gedanken um das narzisstische Dichterego, auch über die deutsche Kriegsbegeisterung, die Gefügigkeit der Sozialdemokraten im Parlament, den fehlenden revolutionären Geist macht sich Mühsam Gedanken.
Viele Zwischenbilder haben keine narrative Funktion, sondern projizieren einen Seelenzustand auf die Umgebung, seien es die tiefen Gebirgsschluchten der Alpen oder die Häuserschluchten in München. Bachmann, der Filmregie studiert hat, bevor er Zeichner wurde, spielt mit extremen Perspektiven – manche Bildsequenzen erinnern an einen expressionistischen Stummfilm: Die Umgebung ist beseelt, sie spiegelt Mühsams innere Unruhe wider – und die Vorahnung des Kommenden. Und auch mit diesem Unbehagen reflektiert die Bildergeschichte das Lebensgefühl des frühen 20. Jahrhunderts auf eine Weise, in der man sich allzu leicht wiederfinden kann.
Info
Mühsam: Anarchist in Anführungsstrichen Jan Bachmann Edition Moderne 2018, 96 S., 19 €
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