Eine leere Stadt

Berlinale Filme über das Fremdsein und Fremdwerden erzählen davon, was Migration bedeutet
Ausgabe 09/2020

Ein alter Mann fällt vom Apfelbaum. Danach will er nur von denen besucht werden, die auch vom Apfelbaum gefallen sind.“ Damit beschreibt Xhafer (Mišel Matičević), die Hauptfigur in Visar Morinas Film Exil, seine Isolation. Nur wer es selbst erlebt hat, versteht, was es heißt, keine Heimat zu haben, in die man zurück kann – aus welchen Gründen auch immer. Dieses Gefühl der Unbehaustheit, das sich so schwer erklären lässt, zieht sich wie Spinnweben durch das Programm der diesjährigen Berlinale.

Oft findet es einen Ausdruck in den Räumen, in denen die Protagonisten keine Heimat finden. Das Leben von Xhafer findet zwischen Büro und Einfamilienhaus statt. Darin ist er mustergültig integriert, doch als eines Tages eine tote Ratte an seinem Gartenzaun hängt, kommt die innere Unsicherheit, die er in sich trägt, zum Schwingen. Xhafers Verdacht, dass die Ratte aus dem Labor der Pharmafirma stammt, in der er als Projektleiter arbeitet, ist plausibel. Dem griesgrämigen Kollegen, der keinen Versuch auslässt, Xhafer in seiner Arbeit zu behindern, ist ein solcher Akt zuzutrauen. Und was ist mit den anderen, die so tun, als wäre nichts?

Exil, ein Beitrag der Berlinale-Sektion Panorama, ist ein Film über jemanden, der merkt, dass er sein Anderssein nicht los wird, egal wie sehr er sich um Anpassung bemüht. Xhafers eigene Schwiegermutter wird ihn nie akzeptieren, weil er „ein Kanake“ ist. Oder bildet er sich das nur ein? Ist in Wahrheit er es, der das Anderssein verinnerlicht hat? Objektive Wahrheiten gibt es in Exil nicht. Nur dieses Gefühl, mit dem er, obwohl er es mit so vielen Menschen teilt, am Ende so allein ist. Deshalb kommt seine Frau (Sandra Hüller) bald nicht mehr an Xhafer heran.

Aus dem Exil gibt es kein Zurück mehr, das weiß auch Xhafer, wenn er seiner Frau ganz unvermittelt vorschlägt, mit ihm in seine Heimat zu ziehen. „Du warst doch seit Jahren nicht dort“, wiederholt sie, in einer wunderbaren Hüller’schen Mischung aus Offenherzigkeit und Ungeduld. Würde es Xhafer besser gehen, wenn seine Frau ihm mehr Empathie und Verständnis entgegenbrächte? Ganz unrecht hat sie nicht, wenn sie ihm vorhält, es liege vielleicht gar nicht daran, dass er Ausländer sei, sondern daran, dass er einfach ein Arschloch sei. Dabei weiß sie gar nichts von seiner Affäre. Und davon, dass er sich der anderen Frau gegenüber, die, wie er, im Exil lebt, tatsächlich wie ein mickriges Arschloch verhält – ein genialer Twist des Drehbuchs. Exil fragt nach den Ursachen von und einem möglichen Umgang mit Xhafers Ängsten, verweigert sich aber einfachen Kausalitäten. Statt dessen lässt er den Zuschauer mitleiden, intensiv und körperlich.

Was bei Xhafer nur ein Gedanke bleibt, setzt die Protagonistin im Forums-Film Schwarze Milch von Uisenma Borchu um: Aus Deutschland, wohin sie als Kind ausgewandert ist, kehrt sie – die von ihr selbst gespielte Figur nennt sie Wessi – zurück in die Mongolei. Dort lebt sie mit ihrer Schwester Ossi (Gunsmaa Tsogzol) in einer Jurte. Mit der Wiedervereinigung der Schwestern begegnen sich zwei Lebensmodelle – ein an Traditionen orientiertes östliches und ein modernes westliches. Es liegt nahe, die entfremdeten Schwestern als zwei Seiten einer Persönlichkeit zu betrachten.

Baden in Stutenmilch

In der Jurte ist Arbeit und Leben noch eins: Die Milch der Stuten wird zu Milchprodukten in allen Variationen verarbeitet, nichts wird verschwendet. Hier kommt die Gemeinschaft zusammen, um den Neuankömmling zu begrüßen. Doch das Sehnsuchtsbild der traditionellen Kultur, für das die Jurte ein Sinnbild ist, wird in Schwarze Milch ebenso hinterfragt wie das von Freiheit und Emanzipation. Schon bald zicken die Schwestern sich gegenseitig an: Ossi wirft ihrer Schwester Verweichlichung, mangelnde Anpassungsfähigkeit und Arroganz vor; die wiederum bemängelt ihre mangelnde Emanzipation. Auch in ihrer jeweiligen Art, weibliches Begehren zu leben, unterscheiden sie sich. Wessis Sex in Deutschland ist mechanisch und leidenschaftslos. Hier, in der Steppe, fühlt sie sich zu dem Mann mit der besonders dunklen Haut hingezogen. Und auch Ossi spürt ihrem unerfüllten Begehren nach: Wie Kleopatra badet sie in wertvoller Stutenmilch. Durch den Austausch beginnen beide mit der Möglichkeit zu spielen, die jeweils Andere zu sein. Aus der Direktheit der Anordnung entsteht oft eine Komik, die tiefere Wahrheiten offenbart. Vor allem die, dass wir mit keiner Kultur eins sind. Die Jurte ist hier nicht nur ein Hort des Bewahrens, sie wird durchlässig. Auch wenn die Tür, die immer offen bleibt, möglicherweise Gefahr birgt – sie zu verschließen, bringt Unglück.

In dem Dokumentarfilm Traverser (ebenfalls Forum) des Ivorers Joël Richmond Mathieu Akafou ist die räumliche Not eine ganz konkrete; sie macht dem Protagonisten Inza das wirkliche Ankommen unmöglich. Über Libyen hat er es von der Elfenbeinküste bis nach Italien geschafft. Welche Erlebnisse hinter ihm liegen, erfahren wir nur andeutungsweise. Jetzt sehen wir ihn ziellos pendelnd zwischen dem Auffanglager und der improvisierten Wohnung seiner Bekannten. Auch hier, scheint es, ist man gerade erst eingezogen: Ein paar Matratzen, Decken, Kleidung liegen auf dem Boden, die Wände kahl, Sitzgelegenheiten rar. Das Telefon, Inzas einzige Verbindung in die Heimat, ist sein ständiger Begleiter. So hält er auch den Kontakt zu seinen Liebschaften. In seinen Frauenbeziehungen sitzt er ebenfalls zwischen allen Stühlen. Eine davon beherbergt ihn. In Italien müsste Inza wohl noch jahrelang im Lager leben – deshalb will er weiter nach Frankreich. Dass ihn dort eine andere erwartet, darf seine Freundin nicht wissen.

Traverser erzählt eine Geschichte, die wir tausendmal gehört haben. Möglicherweise hat die Entscheidung zur distanzierten Beobachtung damit zu tun, dass es eben nicht um Inza im Speziellen, sondern um Inza im Allgemeinen geht. Und tatsächlich veranschaulicht der Film Inzas Halt- und Heimatlosigkeit in der Illegalität. Man kann es ihm kaum verübeln, dass er sich seine Freundinnen warm hält, so lange er noch nicht weiß, an welchem Ort er als nächstes eine Bleibe braucht. Doch hat die distanzierte Zurückhaltung des Blicks etwas Penetrantes: Wer nimmt uns mit, als Inza sich unterwegs zur Grenze vor der Kontrolle auf der Zugtoilette versteckt? Warum wird die Beziehung, die zwischen Gefilmten und Filmenden unweigerlich entstehen muss, versteckt? Und wenn Inza der Eine ist, der für Viele steht, warum geht es ausgerechnet um ihn?

Eine gegenläufige Bewegung findet im Dokumentarfilm Victoria von Sophie Benoot statt. Von L. A., dem Zentrum der Prosperität, zieht ein junger Afroamerikaner nach California City. Die Wüstenstadt erinnert in ihrer verlassenen und unheimlichen Präsenz vor allem an die Zukunft, die nie eingetreten ist: In den 1960er-Jahren wurden hier auf über einer halben Million Quadratkilometern Straßen gebaut und Wasserleitungen verlegt, in der Erwartung, dass die Stadt demnächst zum Leben erwachen würde – was nicht geschah.

Viele der in California City angelegten Lots sind leer, Straßen und Wasserleitungen marode. Während die Mieten in der Metropole Los Angeles unerschwinglich geworden sind, kann der Protagonist hier mit seinen Kindern und seiner jungen Frau ein Haus bewohnen. Hier kann er seinen Schulabschluss nachholen – gemeinsam mit anderen, die eine ähnliche Geschichte haben. Die bewegte Vergangenheit des Protagonisten bleibt unbestimmt, seine Zukunft ist ungewiss. Er lebt ganz in der Gegenwart. Als Teil einer Task Force säubert er die überwucherten Straßen – eine Aufgabe, die angesichts der Größe und Leere des Ortes endlos und vergeblich erscheint. Die Geschichte der Stadt, die eher wie das Negativ einer Geschichte ist, verbindet sich mit der Geschichts- und Zukunftslosigkeit des Protagonisten. Sind Unorte wie dieser die einzige Zuflucht für Menschen wie ihn?

Die Filme auf der diesjährigen Berlinale, für deren Helden die Welt keine Heimat ist, sind zahlreich. Jeder mag eine individuelle, einzigartige Geschichte erzählen. Manche sind mehr, manche weniger gelungen. Aber in ihrer Vielstimmigkeit drücken sie eine kollektive Erfahrung aus, für die Worte allein niemals ausreichen.

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