Captain Kretschmann

Grüne Dem Vormarsch der Realos hat der linke Flügel nichts entgegenzusetzen
Ausgabe 11/2016
Viele Grüne wollen das Erfolgsmodell aus Stuttgart nun im Bund kopieren
Viele Grüne wollen das Erfolgsmodell aus Stuttgart nun im Bund kopieren

Foto: Thomas Niedermüller/Getty Images

Die Laune bei den Grünen an diesem Montag war prächtig. „Jetzt haben wir zum zweiten Mal Geschichte geschrieben“, erklärte Parteichef Cem Özdemir den Journalisten in der Berliner Bundesgeschäftsstelle. Der fulminante Wahlsieg Winfried Kretschmanns, der seine Partei erstmals zur stärksten Kraft in einem Bundesland gemacht hatte, überstrahlte an diesem Tag noch alles. Doch dass diese gelöste Stimmung lange anhält, ist eher unwahrscheinlich. Denn der Wahlsonntag hat auch deutlich gemacht: Die Grünen haben ein Problem.

Baden-Württemberg ist ein Sonderfall – und das nicht nur wegen Ministerpräsident Kretschmann. Seit der Bundestagswahl 2013 hat die Partei bei fast allen Landtagswahlen Prozente abgegeben – nur in Brandenburg und Hamburg konnte sie leicht hinzugewinnen. Auch in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz verloren die Grünen jetzt wieder. Doch während die knapp über fünf Prozent in dem ostdeutschen Bundesland angesichts des dortigen massiven Rechtsrucks schon fast als Erfolg gewertet werden müssen, bedeutet das gleiche Ergebnis bei der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz eine krachende Niederlage.

In Dreyers Schatten

Die Grünen stürzten dort um zehn Prozentpunkte ab, von 15 auf 5. Und das, obwohl sie mit in der Regierung saßen. Die Erfolge des Landesverbandes seien nicht zum Tragen gekommen, die Partei wegen des Duells Dreyer-Klöckner nicht wirklich wahrgenommen worden, heißt es in der Parteispitze als Erklärung für den Nackenschlag. Aber ist es wirklich so einfach?

Die Rheinland-Pfälzer Grünen gelten als linker Landesverband. Während Landesvater Kretschmann in Stuttgart sogar einen guten Draht zur Automobilindustrie pflegte, machte sich Wirtschaftsministerin Eveline Lemke in Mainz bei den Unternehmen nicht sonderlich beliebt. Im Wahlkampf setzte sie vor allem auf das urgrüne Thema Energiewende – was angesichts der alles überragenden Flüchtlingsfrage ganz offensichtlich nicht zog.

Mit linken Themen kommt die Partei derzeit nicht mehr weit. Von den Steuererhöhungsplänen aus dem erfolglosen letzten Bundestagswahlkampf hat man sich längst verabschiedet, stattdessen versuchte die Partei, sich zeitweise als neue liberale Partei auf Bundesebene zu etablieren. Erfolgreich waren die Grünen zuletzt, wenn sie den Wählern greifbare Lösungen vor Ort präsentierten – sei es in der Wirtschaftspolitik oder bei Konzepten für den ländlichen Raum. Man sei einen „Kurs der Mitte“ gefahren, heißt es im Landesverband Baden-Württemberg. So wurde die Partei auch anschlussfähig für ehemalige CDU- und SPD-Wähler.

Prominente Vertreter des Realo-Flügels fordern nun, diesen Kurs auch für die Bundespartei zu übernehmen. Von den Grünen in Baden-Württemberg könne man lernen, sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Kretschmann habe „mit guter Politik und Pragmatismus für das Ergebnis gesorgt“. Auch Parteichef Özdemir, selbst aus Baden-Württemberg, lobte den „werteorientierten Realismus“ seines Landsmannes.

Für manche auf dem linken Flügel klingt das wie eine Drohung. Die Grünen müssten ihre Kernthemen weiterhin nach vorne stellen, so Parteichefin Simone Peter, eine Vertreterin des linken Flügels. Doch den Linken gehen so langsam die Argumente aus. Mit klassisch grünen Inhalten konnte die Partei schließlich zuletzt nicht punkten. Im philosophischen Wettstreit zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik haben bei den Grünen derzeit die Pragmatiker die Nase vorn.

Der nächste Streit zwischen den Flügeln ist bereits absehbar. Demnächst steht erneut eine Entscheidung über die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer an – diesmal um drei nordafrikanische Staaten. Zweimal hat Winfried Kretschmann für Baden-Württemberg in dieser Frage bereits mit Ja im Bundesrat gestimmt – und kann es sich wohl auch ein drittes Mal vorstellen. Für viele Parteilinke ist das ein Verrat an den Prinzipien der Partei. Kretschmann wiederum fand, er habe für seine letzten beiden Zustimmungen sinnvolle Erleichterungen für Flüchtlinge und Geld für ihre Unterbringung als Gegenleistung der Bundesregierung bekommen. Ein gutes Geschäft, findet der Ministerpräsident. Das ist der grüne Pragmatismus bei der Arbeit. Was man bei den Parteilinken davon hält, ist bekannt. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth sprach von einem „schwarzen Tag“ der Partei, nachdem Kretschmann im Herbst 2014 erstmals Ja zur Ausweitung sagte. Kurz darauf verglich Jürgen Trittin Baden-Württemberg mit Waziristan, dem Rückzugsgebiet der Taliban.

Doch trotz dieser Empörung haben die Linken der vermeintlichen Talibanisierung der Grünen wenig entgegenzusetzen. Die Kräfteverhältnisse innerhalb der Partei verschieben sich bereits seit längerem. Spätestens seit dem schwachen Ergebnis der Bundestagswahl 2013, für das nicht wenige Trittin verantwortlich machten, sind die Realos auf dem Vormarsch. Nach dem furiosen Wahlsieg wird Kretschmann nun maßgeblich den Kurs der Grünen mitbestimmen. Die Linken dagegen sind auf der Verliererstraße. Im kommenden Jahr könnten die Grünen trotz Doppelspitze ohne linken Spitzenkandidaten in den Bundestagswahlkampf ziehen. Fraktionschef Anton Hofreiter könnte es in einer Mitgliederbefragung gegen den beliebten Realo Robert Habeck, Umweltminister in Schleswig-Holstein, schwer haben. Und eine linke Gegenkandidatin für Katrin Göring-Eckardt hat sich bislang noch gar nicht gefunden.

Die Pizza-Connection

Hinzu kommt, dass die Linken unter den Grünen derzeit auf keine realistische Machtperspektive verweisen können. Die Partei will 2017 nach zwölf langen Jahren in der Opposition endlich wieder regieren. Die Chance darauf bietet jedoch vor allem ein potenzielles Bündnis mit der Union. Rot-Rot-Grün hat auf Bundesebene angesichts der Schwäche der SPD und der nicht in allen inhaltlichen Fragen klaren Positionierung der Linken derzeit nicht nur keine Mehrheit in den Umfragen; ein solches Bündnis wird auch politisch nicht ernsthaft vorbereitet. Die wieder auflebende schwarz-grüne Pizza-Connection trifft sich dagegen regelmäßig beim Italiener in Berlin-Mitte. Man könne gut miteinander, berichten Teilnehmer.

Auch in den Ländern geht der Marsch Richtung politische Mitte weiter. In Baden-Württemberg dürfte eine grün-schwarze Koalition am wahrscheinlichsten sein. In Sachsen-Anhalt erklärten sich die Grünen bereit, eine Koalition mit CDU und SPD zu prüfen und in Rheinland-Pfalz wird bereits über eine Ampel mit Sozialdemokraten und FDP nachgedacht. Viel Raum für Gesinnungsethik dürfte es in keiner dieser Konstellationen geben.

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Geschrieben von

Julian Heißler

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Julian Heißler

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