Sitznachbar gesucht

Netzgeschichten Eine Bahnfahrt mag ja noch lustig sein, die Mitfahrer sind es mitunter weniger. Eine Community für Bahnfahrer will nun bei der Auswahl von passenden Reisegefährten helfen

Die Einsamkeit ist eine der schlimmsten Plagen der modernen Welt. Stets vernetzt läuft der Digital Native Gefahr, enge Beziehungen in der analogen Welt durch brüchige Verbindungen in sozialen Netzwerken zu ersetzen. Die Risiken sind offensichtlich. Für die postnetz­apokalyptische Zeit muss also schnellstens vorgesorgt werden. Die Menschen sollen wieder zusammenkommen, ganz ohne UMTS-Verbindung. Doch wo? Die Versuchung, online zu gehen, lauert schließlich überall. Jedes Café bietet mittlerweile seinen Kunden W-Lan, und Bürgerinitiativen kämpfen für kostenloses Surfen über Funk überall in den Innenstädten. Die Städte scheiden also als online-freie Räume aus. Bleibt eigentlich nur der Transit.

Natürlich, auch der Zug gleicht heute eher einem Großraumbüro als dem meditativ-entspannenden Reisegefährt vergangener Zeiten. Doch wo, wenn nicht hier, soll die Kulturrevolution möglich sein? Das W-Lan in den Zügen ist so überteuert wie der Airbus-Militärtransporter A400M, und wer einmal versucht hat, zwischen Berlin und Hamburg die Datenflatrate seines iPhones voll auszukosten, wird schnell an vergessene 28.8er-Modemverbindungen erinnert. Die Bahn ist daher der ideale Raum, wo Analog-Begegnungen noch möglich sind. Leider sind die nicht immer freiwillig oder gar angenehm.

Das möchte nun der Erfinder einer Community für Bahnfahrer, traindate.de, ändern. Die potenziellen Reisepartner oder Sitznachbarn präsentieren und vernetzen sich wie gewohnt über ein Profil, Hobbys und schicken Fotos ­inklusive. Die Idee dazu kam dem gebürtigen Iraner Seyyed Razavi während ­einer Bahnfahrt. Der ausgebildete ­Kfz-Sachverständige, nach Presseinformationen „aber auch leidenschaftliche Schachspieler“, kam nach einem erfolglosen Bewerbungsmarathon mit seinem Sitznachbarn ins Gespräch, der sich so interessiert und angetan zeigte, dass er ihm einen neuen Job anbot. ­„Gezielt suchen, statt auf den Zufall warten“, so lautet denn auch das Motto seiner Kommunikationsplattform. Klingt plausibel für alle, die ihre Erfahrungen in Bahnabteilen gemacht haben.

Aber was, wenn der analoge Zuggefährte mit seinem digitalen Avatar so gar nichts gemeinsam hat? Oder ganz andere Absichten als man selbst? Sind die Fluchtwege im ICE nicht zu begrenzt für Experimente? Vor Missbrauch der Notbremse wird schließlich explizit gewarnt. Also von Kiel bis Augsburg einfach durchhalten und am Ende mit einem unschönen Beitrag bei dontdatehimgirl.com in die Welt entlassen werden? Nein! Dann doch lieber gruscheln.

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Geschrieben von

Julian Heißler

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