Anstatt zum Mauerfalljubiläum die immergleichen Bilder zu reproduzieren, wirft das Maxim-Gorki-Theater einen ganzen Monat lang den Blick auf jene, die noch mittendrin stecken in der Geschichtsschreibung: die Widerständischen in Damaskus, Athen, Istanbul, Kairo, Kiew oder Teheran. Die Proteste vor 25 Jahren versucht es mit den heutigen zu verbinden, was nur folgerichtig ist. Durch die globale Vernetzung gehen sie uns alle etwas an.
Dass es nicht einfach ist, eine künstlerische Form dafür zu finden, zeigte die Tanzperformance We need to move urgently des Istanbuler Künstlerkollektivs Taldans. Von rechts nach links fliegen Gegenstände über die Bühne, eine Taucherbrille, ein Helm, ein Pflasterstein, eine Mehrfachsteckdose, Klopapier, eine Plastikflasche mit Milch gegen die vom Tränengas gereizten Augen. Es ist die wertlos gewordene Grundausrüstung der Protestierenden vom Gezi-Park. Als wäre die Luft zu zäh, um sich frei zu bewegen, schieben sich die Performer zum Takt eines Diktiergeräts durch den Raum. Langsam entwickeln sie einen gemeinsamen Rhythmus, gewinnen an Geschwindigkeit und Kraft. Wie in der Türkei eine neue Protestgemeinschaft zusammenwuchs, wird so zwar verbildlicht, berührt aber kaum. Anders die Originaltöne der Aufstände, die eingespielt werden. Erregte Rufe und Parolen erfüllen den Raum, Schläge, Knalle, ein gewaltiges Stimmengewirr. Wirklich nah fühlt sich der Protest nur in dem Moment an, in dem das echte Leben in den Theaterraum eindringt.
Von einer ähnlichen Erfahrung berichtet die Künstlerin Zeyno Pekünlü in ihrer Lecture Performance. Pekünlü ist Dozentin der Kültür-Universität in Istanbul, im Gezi-Park managte sie den Infopoint. Das ganze vergangene Jahr, erzählt sie, habe sie wissenschaftliche Vorträge über die Proteste gehalten. Danach, beim Abendessen und in den Bars, wollten ihre akademischen Zuhörer aber etwas ganz anderes wissen: Wo wurde geduscht, wie viel geschlafen?
Kein Sex mehr
Pekünlü verstand, um die Widerstände begreifbar zu machen, müssen die Alltagsgeschichten der Menschen erzählt werden. Und so hat sie eine persönliche Gefühlschronologie der Proteste verfasst. Es ist eine einfache Erzählung, doch von so enormer Kraft, dass man nach einer Stunde wie aus einem Film auftaucht. Wie ein Freund von ihr acht Stunden lang ein Kabel in einer bestimmten Position festhielt, damit die Verbindung zur Soundanlage während der Reden nicht abriss. Wie sie nach der vierten Nacht ungläubig verstand, dass es sich um einen Volksaufstand handelte, weil auch junge Frauen in Minirock und Flipflops kamen. Wie Nachbarn Waschmaschinen aus den Fenstern schmissen für die Barrikaden. Wie niemand mehr Sex hatte, weil sich alle Erregung auf den Aufstand richtete. Die Überraschung, die Angst, die Entfremdung – all das hat Zeyno Pekünlü zu einer dichten und berührenden Erzählung verwoben.
Die Konkurrenz zwischen Alltagserfahrung und dem künstlerischen oder wissenschaftlichen Diskurs thematisierte auch Whims of Freedom. Gegenstand des Stücks von Laila Soliman ist die ägyptische Revolution von 1919, eine Konsequenz der kolonialen Verfehlungen im Ersten Weltkrieg. Immer wieder geraten die Schauspielerinnen Nanda Mohammad und Zainab Magdy aneinander, unterbrechen sich. Die eine versucht, die bruchstückhaften akademischen Erkenntnisse über die Widerstände vor rund 100 Jahren dreisprachig zu vermitteln. Die andere unterbricht ihre Vorträge durch Revolutionslieder, aus der Konserve und selbst gesungen. Kratzig tönt die Musik über einen alten Plattenspieler, unruhig geht es im Zuschauerraum zu. Zwischenrufe auf Arabisch und rhythmisches Klatschen zeigen, wie sehr sich die Spannungen im Nahen Osten heute aus den komplexen Konflikten von damals speisen. Im Publikum sind drei Syrer aus einem Flüchtlingsheim in Potsdam, eingeladen von einer Studentin. Sie haben die Lieder wiedererkannt, und, ja, es habe ihnen sehr gut gefallen, erzählen sie, bevor sie zurück zum Bahnhof gehen. Es tut gut zu sehen, dass das Theater bei all der Auseinandersetzung mit sich selbst das noch kann: Betroffene in den Zuschauerraum holen.
Im besten Fall aber dringt die Kunst eben in den Alltag vor. Genau dies geschah bei der Auftaktveranstaltung des Festivals, der Reise zum „Ersten Europäischen Mauerfall“, organisiert vom Zentrum für Politische Schönheit. Die Aktion um die gestohlenen Mauerkreuze löste eine breite politische Debatte aus, das Gorki-Theater wurde wegen seiner Kooperation hart kritisiert. Und plötzlich stand damit die Frage im Raum, wie das Theater Widerstände auch jenseits der Bühne aufzeigen darf. Es ist die wohl wichtigste Frage der Kunst überhaupt, denn sie verhandelt ihre politische Freiheit. Sie zu stellen, dafür kann man das Gorki nur loben.
Voicing Resistance Maxim-Gorki-Theater Berlin, noch bis 7. Dezember
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