Man muss kein Bach-Kenner sein, um seine Musik beeindruckend finden zu können. Und man muss kein Tanzwissenschaftler sein, um zu verstehen, dass die Frage, wie man Musik in Bewegung übersetzen kann, zu den ureigensten und umstrittensten Fragen dieses Genres gehört. Beides zusammenzunehmen, ein Stück von Johann Sebastian Bach als Tanz zu übersetzen, wird also genuin zu einem choreographischen Wagnis. Die zweiunsechzigjährige belgische Startänzerin und Choreographin Anne Teresa de Keersmaeker ist es zusammen mit dem französischen Tänzer Boris Charmatz angegangen. Das Ergebnis war vergangene Woche im Rahmen des Foreign Affairs Festival in den Berliner Festspielen als deutsche Erstaufführung zu sehen.
Dafür haben sie sich kein geringeres Stück ausgesucht als die Partita Nr. 2 – genauer eine Chaconne, Bachs BWV 1004 d-Moll, eines der angeblich technisch schwierigsten Stücke für die Violine überhaupt. Vielleicht – damit man sich von dem akademischen Überbau des Themas lösen und sich dem Stück sinnlich nähern kann – startet die Inszenierung in völliger Dunkelheit. Der Zuschauer ist die folgenden fünfundzwanzig Minuten alleine mit der Musik (Violine: Amanda Beyer). Im folgenden zweiten Teil wird es licht und still, die beiden Tänzer, de Keersmaeker und Charmatz, betreten energisch die Bühne. Es ist, als müssten sie die zuvor von der Musik angestaute Energie abtanzen. Man vernimmt nur ihren Atem, impulsiv ausgestoßene Laute, das Quietschen der bunten Sneakersohlen (Kostüm: Anne-Catherine Kunz).
Nach und nach entsteht aus sorgfältigen, geometrischen Bewegungen, kontrollierten Sprüngen, einfachen Schritten und punktgenauen Sprints von Keersmaeker und Charmatz ein Muster, ein mathematisch präziser Rhythmus. Die Tänzerin wirkt mit ihrem kleinen fragilen Körper dabei oft melancholisch, fast entrückt. Charmatz – und das ist ein angenehmes Gegengewicht – scheint geworfen, ungestümer. Vielleicht funktionieren sie als Duo deshalb umso besser, je weiter ihre Körper voneinander entfernt sind. Sie takten sich ein.
Tanzmusik: Gigue, Courante, Allemande
Wer genau zuschaut, kann darin die Sprache der Musik wiedererkennen, eine Art unsichtbare Verbindung zwischen Musik und Bewegung erspüren. Das gelingt den Tänzern ohne Pathos, zu dem die Sonate in Moll schnell verführen kann. Es sei schwierig, ein derart besetztes Stück wie Bachs Partita Nr. 2 aus seiner Reihe von nicht geglückten Tanzinszenierungen zu lösen, erklärt de Keersmeaker im anschließenden Publikumsgespräch. Obwohl es sich bei Bachs Partita bereits um Tanzmusik handele – Gigue, Courante, Allemande, allesamt musikalische Strukturen, die aus Volkstänzen entstanden sind – ist das Stück in seiner Komplexität ein Berg, angesichts dessen sie sich fragte: Wie sich nähern? Wie kommt man zu einem interessanten Ergebnis?
Gerade die einfachen Schritte des Duetts seien dafür wichtig, erläutert sie. Trotz des hohen Formalismus der Musik wolle sie so einen Wiedererkennungswert in der Bewegung schaffen. Es gehe eben nicht um die reine Illustration der Musik, sondern um die Durchdringung ihrer Struktur. Orientierung sei in der Entwicklung des Stücks stets die kontinuierliche Bassstimme unter den freien Variationen gewesen. Für den ungeübten Zuhörer ist diese Information wichtig – man hätte es auch übersehen können.
Diese Schritte sind auch ein Ausdruck von Bescheidenheit. Über zwei Jahre haben sich die beiden Choreographen der Musik peu à peu genähert. „My walking is my dancing“, erklärt de Keersmaeker und meint damit, dass das Gehen zusammen mit der Schwerkraft des Körpers die essentiellen Bedingungen des Tanzes sind – und somit die naheliegendste Möglichkeit, ein Verständnis für die Musik zu entwickeln und auszudrücken.
Schrittweises Abtasten der Grenzen
Die Schritte, die Bewegungsmuster der Tänzer scheinen so stets ein Herantasten, ein Abtasten der Grenzen der Musik zu sein. Sie wirken niemals erhaben sondern mitunter fast ehrfürchtig ob der transzendentalen Kraft von Bachs Partita Nr. 2, welche dieser wenige Wochen nach dem Tod seiner Frau schrieb. Und tatsächlich hat die Musikwissenschaftlerin Helga Thöne vor einigen Jahren in Bachs Sonatengeheime religiöse Botschaften entdeckt, die um das Thema Tod und Auferstehung kreisen. Der Versuch, die mathematischen Schichten und Zahlenspiele mit seinen verschiedenen Botschaften freizulegen, ist die Motivation der zwei Tänzer und der Musikerin.
Im dritten Teil des Stücks legen sie diese Schichten wieder übereinander und wiederholen gemeinsam auf der Bühne, was zuvor bereits einzeln zu hören und zu sehen gewesen war. Es fügt sich alles zusammen wie ein Puzzle.
Leider bleibt Bachs Musik dabei weitestgehend unangetastet. Die Musik bestimmt die Bewegungen der Körper: Amanda Beyer –zentral auf der Bühne platziert – gibt hier im wahrsten Sinne des Wortes den Takt vor. Die Choreographen scheinen die Partita als ein Heiligtum zu sehen, in dem sie begrenzte Margen der Interpretationsfreiheit einzuhalten gewillt sind. Dadurch bleibt es eine auf Schöngeistigkeit bedachte und bisweilen wenig aufregende Veranstaltung. Etwas Radikalität, Mut die Musik aufzubrechen um darin möglicherweise Botschaften jenseits der Ehrfurcht zu entdecken – es hätte eine wahrhafte Erschütterung werden können.
Partita 2 wurde zur Eröffnung des Foreign Affairs Festivals in den Berliner Festspielen gezeigt
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.