Der Freitag: Uns Studierenden wird oft vorgeworfen, wir seien mehr an den Bedingungen des Studiums als an den Inhalten interessiert. Ist das so?
Die Lehr- und Lernsituation hat sich durch den Bologna-Prozess sehr stark verändert. Mittlerweile existieren verschiedene Logiken gleichzeitig. Viele studieren auf Bachelor und wissen, dass es zugleich Kommilitonen gibt, die in den alten Studiengängen auf Magister und Diplom studieren oder noch Studiengänge belegen, die schon wieder abgeschafft sind. Von daher ist für diese Generation eine Situation entstanden, in der sie sich ständig auf neue Bedingungen einstellen muss.
Das heutige Studium funktioniert archipelisch. Es gibt verschiedene Studienorte, die jeweils nach einer eigenen Logik funktionieren. Das ist insofern paradox, als der Bologna-Prozess ja gerade eine Logik schaffen wollte: Man beginnt etwa ein Studium in Dublin, setzt es in Paris fort und endet in Palermo.
Aber das schafft auch Unsicherheit. Wir witzeln oft, dass wir zur Not Taxi fahren.
Die Frage, was man mit seinem Studiengang anfängt, ist in den Geisteswissenschaften nicht unbedingt eine neue. Das haben sich Ihre Vorfahren auch immer gefragt. Ich würde sagen, etwa 70-80 Prozent unserer Studierenden haben eine Arbeit gefunden, die für ihre Ausbildung adäquat ist. Bei mir im Bereich haben schätzungsweise über 90 Prozent der Doktoranden und Doktorandinnen innerhalb von kurzer Zeit Stellen gefunden. So schlecht sieht es nicht aus.
Aber für die meisten, die ich kenne, kommt nach dem Bachelorabschluss fast selbstverständlich der Masterstudiengang. Viele fühlen sich nach sechs Semestern nicht ausreichend gelehrt – anders als es Bologna eigentlich vorsieht.
Bologna ist ein velozifärisches System. Das heißt, es setzt auf Schnelligkeit, und die Entscheidungsprozesse kommen von außerhalb, aus den Ministerien. Die am Anfang sehr starken Proteste gegen das System wurden von der Politik relativ schnell ausgeschaltet. Universitäten und Fakultäten, die sich zunächst dagegen entschieden hatten, sind mittlerweile längst überrollt worden. Auch sie mussten das System, mit einer gewissen Verspätung, aber im Grunde doch relativ schnell einführen. Velozifärisch heißt, es hat auch etwas Teuflisches. In den neuen Studiengängen müssen ständig neue Leistungen erbracht werden.
Dennoch wirft man uns vor, wir seien stromlinienförmig.
Diese Befürchtung hatte ich zunächst auch. Das sehe ich mittlerweile überhaupt nicht mehr, außer in Einzelfällen, aber die gab es immer. Es gibt heute durch das Internet eine Vielzahl an digitalen Informationsquellen, die ausgeschöpft werden, und zwar immer mit Blick auf spätere Arbeitsmöglichkeiten. Die Leute fangen sehr früh an, quer zu denken. Ich habe es jetzt zweimal erlebt, dass Studierende sehr früh Kontakt zu Fernsehsendern hergestellt und dort Arbeit gefunden haben.
Ist unser Wissen oberflächlicher geworden?
Die alte Universität im Sinne von Wilhelm von Humboldt funktioniert so nicht mehr. Ein klassisches Bildungsideal des Studierens in die Breite ist ganz bewusst ausgeschaltet worden. Durch die Geschwindigkeit bleibt nicht mehr ausreichend Zeit zur Vertiefung und Suche. Dieses Suchen ist zugleich aber auch das Forschen im weitesten Sinne.
Meine persönliche Haltung dazu ist eine sehr negative, weil das für mich in meinem Studium der wichtigste Wert war. Ich habe für mein Studium relativ lange gebraucht und mir gleichzeitig verschiedene Gegenstände und Methodologien erarbeitet. Damit war ich sehr glücklich. Ich sehe den Bologna-Prozess als einen Verlust. Trotzdem kann es damit auch einen anderen Wert geben. Neue Fähigkeiten, wie sich auf ständig verändernde Verhältnisse einzustellen, können entstehen. Etwa ein hohes Maß an Flexibilität.
Damit geht aber auch eine gewisse Überforderung einher. Das zeigt auch die Situation in den psychologischen Beratungsstellen. Der emotionale Druck ist sehr hoch.
Das kann man auch in den Sprechstunden feststellen. Ich würde sogar eine geschlechterspezifische Unterscheidung machen. Es sind in aller Regel die Studentinnen, die einräumen, ich schaff das nicht, und es geht alles nicht mehr. Die Studenten mauern eher.
Ich kenne auch Geschichten von Kommilitoninnen, die in einer Sprechstunde weinend zusammengebrochen sind, obwohl es „nur“ um eine Hausarbeit ging.
Das passiert bei mir häufig, der Druck in den Fächern ist gewaltig. Die Sprechstunde ist dafür Ventil und Signal. Ich bin da sehr vorsichtig, allerdings auch aus einer alten Zeit heraus. Vor 20 Jahren habe ich an einer Universität studiert, an der sich zwei Studentinnen nach dem Besuch einer Sprechstunde bei einem Dozenten das Leben genommen haben. Dieser Stress ist also kein völlig neues Phänomen. Anders ist aber heute diese intensive Thematisierung. Diese Vier-Augen-Gespräche sind oft keine wissenschaftlichen Sprechstunden mehr. Es geht zunehmend um allgemeine Lebensfragen, etwa die nach dem Lebensrhythmus und der Zukunft nach dem Studium. Ich nehme mir dann Zeit und versuche, die Studierenden zu beruhigen.
Was ist der größte Unterschied der Bachelor-/Master-Studierenden zu früheren Generationen?
Ich selber hatte nie das Gefühl, dass die Studierenden heute besser oder schlechter sind, sondern signifikant anders. Sie fragen sehr schnell nach den Spielregeln. Es gibt viele, die geradezu verwaltungstechnisch abfragen, welche Leistung sie erbringen müssen, oder welche Möglichkeiten zur Umrechnung der Leistungspunkte es gibt. Das ist aus dieser viellogischen Struktur heraus zu erklären. Schreibe ich etwa eine Masterarbeit in einem lehramtsbezogenen Studiengang, ist die Masterarbeit kürzer als in einem nicht-lehramtsbezogenen. Es gelten für alle Variationen immer etwas andere Spielregeln, die auch manchmal für mich nicht mehr überblickbar sind.
Und das war früher anders?
Da waren die Studienbedingungen klarer. Gleichzeitig waren die Möglichkeiten, den Studierenden entgegenzukommen und Freiräume zu lassen, wesentlich größer. Ich habe mich lange Zeit dagegen gewehrt, meine Vorlesungen mit einer Klausur abzuschließen, bis ich dazu gezwungen wurde. In meinem Studium ging es nicht um die Frage, ob man am Ende ein abprüfbares Wissen zertifizieren lassen muss, sondern darum, was ich – pathetisch gesprochen – für mein Leben mitnehme. Die neuen Studiengänge funktionieren nach einer anderen Logik. Es geht um abfragbares und kanonisiertes Wissen, nicht die Vermittlung einer Grundhaltung. Insofern ist die klassische Vorlesung das absolute Gegenmodell zu den Bachelor- und Masterstudiengängen.
Wie haben Sie dieses Problem gelöst?
Ich versuche die Klausuren radikal zu entschärfen. Es ist nicht so, dass man als Dozentin oder Dozent keine Spielräume hätte. Meine Haltung gegenüber dem Bologna-Prozess lässt sich zurückführen auf die Maßgabe, welche die spanischen Kolonien seit dem 16. Jahrhundert hatten. Da gab es diesen Rechtsgrundsatz: la ley se obedece pero no se cumple. Ich gehorche dem Gesetz, aber ich führe es nicht aus. Das heißt bei der Vorlesung, dass ich zwar eine Klausur schreiben lasse. Aber ich verändere den Spirit dessen, was ich damit auslösen möchte, nicht. Ich mache nur eine äußere Korrektur, die keine inhaltlichen Konsequenzen hat.
Uns bleibt kaum Zeit, unser Wissen zu vernetzen. Wir treffen uns meist nur einmal im Semester als Gruppe zum Lernen, jeweils kurz vor einer Klausur.
Da ist auch ein großer Unterschied zu früher. Die Sozialstruktur innerhalb der Kurse ist prekär, weil sich die Leute oft nur ein einziges Mal pro Woche sehen. Für Diskussionszirkel bleibt überhaupt keine Zeit. Bei mir im Studium kannte man sich eigentlich ziemlich gut, auch an großen Universitäten. Umgekehrt hat die soziale Vernetzung über digitale Netzwerke und andere Kommunikationsformen zugenommen. Die Studierenden bekommen heute mit, was auf den anderen Inseln läuft.
Das bietet einem auch Chancen.
Absolut. Es ist ein Lernprozess. Die Ablehnung von Bologna hat bei mir eher dem Versuch Platz gemacht, die Lücken dieses Systems zu nutzen. Früher wurden Studiengänge für sehr lange Zeiträume eingerichtet. Heute haben wir welche, die mit einem Federstrich vonseiten des Ministeriums oder des Dekans beseitigt werden können. Insofern hat sich bei mir eine gewisse Gelassenheit entwickelt. Ich achte vor allem darauf, wo ich die mir wichtigen Lehrinhalte implementieren kann. Und wo ich die Möglichkeit habe, mit dem System etwas gegen das System zu machen. Eines ist ganz sicher: Die Studierenden verstehen das sofort.
Im Umkehrschluss schafft das für Studierende eine existenzielle Angst. Was mache ich, wenn sich mein Studiengang auflöst?
Ich sehe da nicht den Untergang des Abendlandes. Der aus meiner Sicht gut gedachte, aber schlecht implementierte Bologna-Prozess bietet durch sein Zerreißen eine ganze Reihe von Zusatzchancen. Insofern bin ich optimistisch. Es ist eine hochgradig transitorische Situation. In der Geschichte des Studiums gab es wohl noch nie eine Übergangszeit, in der mit so hoher Geschwindigkeit und so kurzen Verfallszeiten studiert wurde. Das hat neben allem zusätzlichen Stress auch ganz eindeutig Vorteile.
Wie meinen Sie das?
In unserer Situation gibt es die Chance, etwas wie einen Bildungsbegriff neuen Zuschnitts zu entwickeln. Er wäre nicht nationalkulturell, sondern als weltweiter, archipelischer Bildungsbegriff möglich. Meine Lehre zielt darauf ab, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, nach unterschiedlichen Logiken zu reagieren. Zu wissen, dass es jenseits von Brandenburg, Deutschland und Europa Arbeitsmöglichkeiten und Betätigungsfelder gibt. Es gehört zu den Privilegien der Fächer, für die ich zuständig bin, genau in diese Richtung eine Neugier in Gang zu setzen.
Wie kann ich mir das konkret vorstellen?
Wenn es in einer Vorlesung um die Frage der Globalisierung geht, ist mein Zweck neben der Vermittlung bestimmter Inhalte, letztlich die Studierenden dazu zu bringen, ihre Position innerhalb dieser Entwicklung zu überdenken. Was hat das, ganz simpel gesagt, eigentlich mit mir zu tun? Ich lege die Veranstaltungen insgesamt so an, dass sie versuchen, ein Handwerkszeug allgemeiner Art, sozusagen ein Lebenswissen, zu vermitteln, das auf der Basis des alten Begriffs des Weltbewusstseins funktioniert. Und das erfüllt mich sehr.
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Ottmar Ette, geboren 1956, ist das, was man eine Koryphäe nennt. Der Professor für Romanische Literaturwissenschaft und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam hat u.a. den Forschungsverbund Lateinamerika Berlin- Brandenburg mitgegründet.
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