„Wie viel?“ Ich liege in einem Apartment mit fleckigen Wänden auf einem Bett, neben mir ein zusammengeknülltes Laken. Auf einem Tisch steht Gleitgel für Analverkehr. Auf mir hockt Levin, greift nach einer Lederpeitsche und lässt sie sich lasziv den Hals entlanggleiten. Er trägt eine Armeehose, ein transparentes T-Shirt, die Augenbrauen schwarz geschminkt. Er kommt mit seinem Gesicht ganz dicht an meines. Es riecht nach billigem Parfum und Vanille-Raumspray. „Wie viel?“ Ich stammele „nee, danke“ und drücke mich gegen das Eisenbettgestell in meinem Rücken. Ich bin im Theater – auch wenn es sich in diesem Moment nicht so anfühlt.
Für zehn Tage hat der schwedische Regisseur Thomas Bo Nilsson im Rahmen des Theaterfestivals F.I.N.D. der Berliner Schaubühne die Lebenswelt von Luka Rocco Magnotta nachgebaut – einem kanadischen Pornodarsteller, der 2012 einen Studenten mit einem Eispickel tötete, sich vermutlich an der Leiche verging, Teile davon aß, sie in ihre Einzelteile zerlegte und an Schulen und Politiker mit der Post schickte. Ein Video, in dem der Mord und die Leichenschändung zu sehen sind, kursierte im Netz, während Magnotta im Juni 2012 in einem Berliner Internetcafé festgenommen wurde. Heute noch sind Reaction-Videos online, Selbstaufnahmen von Menschen, die sich das Originalvideo anschauen und vor Ekel würgen müssen.
Der Kontext des Wahnsinns
Es ist leicht, das Unerklärliche als psychopathische Einzeltat abzutun. Spannender und schwieriger ist es, Magnotta verstehen zu wollen. Er hat im Internet jede Menge Fanseiten, ein kleiner Charles Manson – zum Ekel gehört auch die Faszination. Nilsson, ehemaliges Mitglied der Performance-Gruppe SIGNA, die bekannt dafür ist, virtuelle Erlebniswelten zu erschaffen, will Magnotta über seinen gesellschaftlichen Kontext zugänglich machen.
Auf 600 Quadratmetern hat Nilsson mit seiner Installation Meat eine Infrastruktur geschaffen: Apartments, Internetcafé, eine Bar, eine Shoppingmall mit Asia-Imbiss, für 30 Euro kann man sich im Nagelstudio bedienen lassen, für zehn ein Zimmer mieten. Hier leben und spielen im Wechsel 60 Performer, während sich die Zuschauer in eine Konsum-Sex-Welt begeben, in der der Wahnsinn bereits angelegt ist. Vier Stunden zu jeder Tages- und Nachtzeit kann man so erleben, warum Magnotta möglicherweise zu einem Mörder wurde. Für mich öffnet sich die Tür um 17 Uhr.
Während Levin mir von seiner verkorksten Kindheit erzählt, beginnt hinter mir eine Domina, eine junge Frau ans Bett zu ketten und ihr die Augen zu verbinden. Später will sie ihr in den Mund pinkeln, die Kundin-Zuschauerin bricht ab. Levin und ich sind unterdessen an den Tisch ausgewichen und schauen Videos von vorherigen Besuchern, die er zu einem Hitlergruß überredet hat. Ich lache nicht. Aber wir werden Facebook-Freunde, zum Abschied geben wir uns die Ghettofaust. Dann ziehe ich weiter. Ich will das Echtblut-Becken sehen, von dem mir eine Besucherin erzählt hat. Langsam gewöhne ich mich an die halbnackten Stripper, die mit anzüglichen Blicken an mir vorbeiziehen. Und dann ist da noch Willy Fuchs, der mit getönter Sonnenbrille die Lage checkt und mir erklärt, er sei der „Chef von allem hier“.
Nilssons Inszenierung funktioniert vor allem über die Masse. Es sind nicht besonders tiefsinnige oder lange Gespräche, die einen in Meat hineinziehen. Es ist ein Netzwerk der Persönlichkeiten, die zusammengenommen ein Gefühl entstehen lassen für eine Welt, die man sonst nur aus der Klatschpresse kennt. Levin hat etwas von Magnotta. Aber erst alle Figuren zusammen ergeben die Psyche des Täters.
Glitzer und Trostlosigkeit
Man lernt die Streitigkeiten der Protagonisten kennen, ihre schwierigen Familienverhältnisse, die Trostlosigkeit, die mit Alkohol, Glitzerkostümen und der ständigen Verführbarkeit durch Sex betäubt werden soll. Ich treffe Michelle, die mit ihren lila Glitzerhaaren und schwarz geschminkten Lippen aussieht wie ein depressiver Cyborg. Sie spricht langsam, mit hängenden Mundwinkeln, trinkt mein Bier mit einem Zug leer, lästert über ihre Mutter, die in der Bar kellnert, und will wissen, woher die Narbe auf meinem Arm stammt – danach zeigt sie mir ein Video, in dem einem Mann beim Armdrücken der Knochen bricht. Als es kracht, wende ich mich angeekelt ab.
Immer wieder werden mir auch die Grenzen meiner Rolle als Zuschauerin aufgezeigt. „Hier geht jetzt niemand mehr rein“, brüllt Willy Fuchs, als ich meinen Finger in das Blutbecken stecken will. Als ich Levin wiedersehe, reagiert er kaum auf mich. Ich gehöre nicht hierher. Wichtig bin ich nur so lange, bis der nächste potenzielle Kunde auftaucht. Die Nähe zu den Figuren verfällt wieder – Einsamkeit ist allgegenwärtig.
Als ich mich nach über drei Stunden in der Sofaecke der Poledance-Bar „Lucky Star“ ausruhe, liegt im Schein der blinkenden Lichter neben mir unbeweglich und mit halbgeschlossenen Augen eine Tänzerin. Dort treffe ich auch Willy Fuchs wieder. Ich will wissen, wie weit die Performance gehen kann. Ob ich mir jetzt einen Mann oder eine Frau mit auf ein Hotelzimmer nehmen könne, frage ich ihn. „Mein Gott, bist du naiv“, sagt er, und streichelt mir lächelnd mit dem Zeigefinger über die Wange. „Wie alt bist du noch mal?“ Ich beteure, dass ich das ernst meine. Meine Begleiterin raunt mir von der Seite zu. „Jule, spinnst du? Dann bist du ein richtiger Freier!“ In diesen Momenten kippt das Spiel in meine eigene Lebensrealität. Ich bekomme Angst, trinke noch einen Wodka und gehe.
Um fünf Uhr morgens werde ich wach und wälze mich im Bett. Ich checke Facebook. Michelle, die Frau mit den lila Haaren, hat auf meine Pinnwand gepostet: „hey jules, du hast gesagt, du nimmst die Bierdosen mit, wenn du gehst, hast du nich gemacht. Muss man dir alles hinterhertragen??“ Zwei Freunde von mir haben den Post geliked – und ich habe das Bedürfnis, zurückzukehren.
Die Welt von Luka Magnotta lässt mich nicht mehr los.
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