Spielen wir mal Europa!

Labor Junge Theaterleute versuchen beim Transeuropafestival eine Gemeinschaft zu formen – abseits der Euro-Debatten

Auf einem kleinem Altar liegt eine EU-Flagge. Darauf sind bunte Totenköpfe drapiert, links und rechts steht jeweils ein Blumenstrauß, von der Decke baumelt eine Totenkopfgirlande. Hier wird gerade die Europäische Union zu Grabe getragen. Neben dem Altar steht ein kleiner Serviertisch mit Sektgläsern drauf. Feiern statt Trauern: Die kleine fröhliche Gemeinschaft stößt in Hildesheim darauf an, dass „wir“ in Zeiten der Krise „immer noch hier sind“. Wir Europäer.

Alle drei Jahre trifft sich eine junge freie Theaterszene auf dem Transeuropafestival, dieses Jahr unter dem Motto get involved – sei dabei. Es werden europäische Gemeinschaftsformen gesucht, jenseits des Euro. Wie weit trägt die Idee der kulturellen europäischen Identität, in Zeiten, in denen sich Europa vor allem finanzpolitisch definiert?

Die Gruppe living room probiert das alltägliche Zusammenleben ganz konkret aus. Für sechs Wochen sind zwei Litauer, eine Isländerin, eine Deutsche und ein Portugiese in eine Wohngemeinschaft gezogen. Am Stadtrand bewohnen sie ein geräumiges Einfamilienhaus mit alten Dielen, Kamin, einem großen Garten. Und Wasserschaden – deshalb stand das Haus leer. Als sie einzogen, war es nur mit ein paar Matratzen und Töpfen ausgestattet, inzwischen sind die Räume voller Zettel, Skizzen und Kuriositäten, welche die Gruppe auf Flohmärkten gefunden hat. Mit dem WG-Projekt wollen sie auch eine Performance für das Festival erarbeiten.

WG-Leben mit Pilates

„Das Zusammenleben hat sich schnell entwickelt“, erzählt Gunnur Schlüter, die aus Island kommt. „Beispielsweise beim Kochen.“ Meistens haben sie Nudeln mit Gemüse gemacht, weil auf die Vegetarier der Gruppe Rücksicht genommen wurde und es billig sei. Auch wenn es um Revolutionen oder Homosexualität ging, seien sie sich einig gewesen. Living room inszenierte das Alltagsleben und zeigte über mehrere Tage hinweg verschiedene Performances.

Bei einem großen Abendessen lassen sie die Zuschauer, die hier zu Gästen werden, am Zusammenleben teilhaben. Oder sie setzen getrennt, in ihren Zimmern, ihre unterschiedlichen Visionen um. Die Zuschauer kommen und gehen, lassen sich durch das Haus treiben. Hier wird Pilates gemacht, dort legt jemand Tarotkarten. Edvinas Grin aus Litauen bietet in dem modrig riechenden Wasserschadenzimmer Tee, Zigaretten und Gespräche an, über die Kunst und das Leben in Litauen, das im Vergleich zu Deutschland sehr teuer sei; das sehe er an den Lebensmittelpreisen.

Dass sie eine ähnliche Idee davon haben, in welcher Gesellschaft sie leben wollen, mag auch der Mischung der WG-Bewohner geschuldet sein – es sind allesamt junge, global vernetzte Künstler, mit einer großen Passion für neue, offene Formen von Kunst und Theater. Aber wenn sie künstlerisch zusammen gearbeitet haben, sagt Frauke Frech aus Berlin, seien ihre verschiedenen kulturellen Prägungen doch sichtbar geworden, „je nachdem, wo wir unser Handwerk gelernt haben“.

Eine gemeinsame Kunstform, der man das Label europäisch anhaften könnte, wäre auch gar nicht wünschenswert. Denn gerade die unterschiedlichen Hintergründe und Identitäten der Performer machen das Projekt spannend und bereichernd.

Auch die Reaktionen der Zuschauer auf die Inszenierung „No Concert“ der Gruppe No Theatre aus Litauen zeugen von verschiedener Wahrnehmung. Als Pantomime mit weißen Gesichtern und in schwarzen Anzügen präsentieren sie Gesang, Theater, Tanz, Akrobatik und spielen virtuos verschiedene Instrumente. Obwohl sie diese Fähigkeiten zigarettenrauchend, mit schrillen Tönen oder grotesken Bewegungen unterlaufen wollen, sind nicht alle Zuschauer begeistert. Die verkrampften und verzerrten Gesichter erinnern nicht an Spielfreude und Spontaneität, sondern an harten Drill. An diesem Ort prallen die Sehgewohnheiten einer jungen freien Theaterszene auf klassischere Auslegungen.

Im Festivalzentrum, einem gemütlich gestalteten Raum mit Sofas, Kerzen und kleinen Papiermobiles an den Decken, wird viel debattiert. Alle reden Englisch mit unterschiedlichen Akzenten, veranstalten Podiumsdiskussionen, und die Künstler aus den Gastländern kreisen um national für sie relevante kulturpolitische Fragen.

Hierarchien und Partys

Hildesheim, sonst betonverschlossene Stadtlandschaft, in der viele Busse ab 7 Uhr abends nicht mehr fahren, wird für ein paar Tage zu einem melting pot. „Ich fühle mich sehr europäisch“, sagt Hannah Pfurtscheller, eine Studentin mit Kurzhaarschnitt, die künstlerische Leiterin des Festivals ist. Sie fühle sich so, weil sie selbstverständlich in der EU reisen, sich austauschen und vernetzen kann. Als Deutsche und vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise weiß sie um ihr Privileg. Künstler aus wirtschaftlich schwächeren und kleineren Ländern wie Litauen oder Portugal können nicht einfach durch Europa jetten wie sie. Umgekehrt sei Deutschland für die Truppen, gerade aus diesen Ländern, ein internationales Sprungbrett. Wer hier spielt, hat Aussichten auf die dringend benötigte Förderung. Europa ist für junge Theatertruppen auch eine wirtschaftliche Union.

Abends sind die Hierarchien vergessen. Auf der inszenierten Party des portugiesischen Künstlerkollektivs Há.Que.Dizê.Lo sollen alle gemeinsam in einen Pfannkuchen beißen, auch in Portugal ein typisches Gebäck mit dem Namen Bola de Berlim.

Die Kreativen schaffen etwas, das der Euro allein nicht kann. Durch sie wird europäische Identität mehr als nur Floskel. Sie kreieren europäisches Zusammenleben, indem sie ihren Lebensraum miteinander teilen und sich kennenlernen. Sie begreife kulturelle europäische Identität als Prozess, sagt Hannah Pfurtscheller. Den will das Festival fördern.

Warum nicht auch mit Theater.

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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