Wer sprechen kann, der kann auch singen

Eventkritik Warum werden jährlich hunderte Chöre gegründet? Ein Besuch beim „Ich-kann-nicht-singen“- Chor in Berlin

An einem bewölkten Vormittag kommen etwa 100 Menschen höheren Alters auf einer Terrasse an der Spree zusammen. Sie schlürfen Café und lugen neugierig auf die andere Seite des Flusses. Von dort dröhnen die Bässe eines Clubs herüber, ein paar Punks sitzen am Ufer vor einem ehemals besetzten Haus und trinken ein Absacker-Bier. Auf der Straße sind sie sich bereits begegnet, die nach Hause Torkelnden mit blassen Gesichtern und die Frühaufsteher mit rosigen Wangen. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie sind wegen der Musik unterwegs.

Hier, auf dem Gelände des Berliner Radialsystems, findet an diesem Sonntagvormittag ein offenes Singen statt; ein Treffen des „Ich-kann-nicht-singen-Chors“. Anfang 2011 ist er entstanden, inzwischen trifft man sich monatlich. Das alte charmante Pumpwerk aus Backsteinen ist mit einer Glaskonstruktion modernisiert worden und dient seit einigen Jahren als offener künstlerischer Raum und Ort für zeitgenössischen Tanz, unter der Leitung der Choreografin Sasha Waltz, deren Company hier beheimatet ist. Nun stehen Damen in Blusen und Kleidern mit sommerlich-floralen Motiven und ein paar Herren in Trekkingsandalen in Grüppchen zusammen und plaudern.

„Pflückt einen Ton“

Im Innenraum begrüßt Chorleiter Michael Betzner-Brandt sie mit einer Power-Point-Präsentation. Mit einem Mikrofon in der Hand schreitet der Musikdozent der Universität der Künste (UdK) die Halle ab und erklärt, dass eigentlich jeder, der sprechen könne, auch singen kann. Der Name des Chors Ich-kann-nicht-singen sei eine Finte erklärt er, am Ende werde es toll klingen. Gelächter.

In der nächsten halben Stunde werden Aufwärmübungen gemacht, alle springen, hüpfen, strecken sich, Ahs und Ohs klingen durch den Raum. „Pflückt einen Ton vom Boden und tragt ihn bis zur Decke“, fordert Betzner-Brandt auf, „Und jetzt zeigt euren Ton jemand anderem.“ Man blickt sich an und singt sich gegenseitig die Töne vor. Alle werden für einen Moment zu Kurzzeitdarstellern, die sich euphorisch durch den Raum bewegen, lachen und winken.

Sie tun, was man sich sonst nur unter der Dusche traut. Als sie dann alle mit dem Rücken zueinander einen großen Kreis bilden und lange Vokale singen, klingt das eindrucksvoll – ein großer vibrierender Ton erfüllt den Raum und die Körper. Dass hier niemand nicht singen kann, merkt man spätestens jetzt. Die meisten beherrschen es sogar richtig gut. So wie Elke Peters, 69. Sie ist mit vier Freunden und Freundinnen gekommen, zum Ausprobieren und Spaß haben, wie sie sagt. So wie die meisten hier, die sich alle nicht schämen, wie ein Känguru zu hüpfen oder den Po zur Begrüßung gegen den eines Fremden zu schwingen.

Gemeinschaftserlebnis der analogen Welt

„Wenn mir jemand vorgeschlagen hätte, zum Chor zu gehen, hätte ich ihm gesagt : Du hast‘n Vogel!“, sagt Peter Nagel, 67. Früher hat er mal Rock‘n‘Roll gemacht. Der Name des Chors habe ihm jedoch die Angst genommen, er sei also spontan hier und habe hemmungslos mitgemacht. Das liegt sicherlich auch an der motivierenden Art Betzner-Brandts, einem geborenen Entertainer.

Er hat seine Locken zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden, trägt Brille und Hosenträger und ist unablässig in Bewegung. Rhythmisch bewegt er sich durch den Raum und überträgt seine Leidenschaft auf alle anderen. „Wie gut es gelaufen ist, merke ich immer daran, wie erschöpft ich hinterher bin“, sagt er. Heute sei er sehr erschöpft.

Mit seinem „vocal style“ gehe es dem Künstler und Musikpädagogen vor allem um den Spaß am Lernen. Es sei eine Form der musikalischen Kommunikation und eine Variante, seine Stimme zu entdecken. „Erziehung durch Musik statt zur Musik“, so nennt er das. Dieses Improvisieren kann man als Gegenbewegung sehen zu einer zunehmenden Professionalisierung von Musik und Stimme, die häufig nach sich zieht, dass Opernsänger bereits mit 40 an Burn-Outs und kaputten Stimmbändern leiden, wie zuletzt Star-Tenor Jonas Kaufmann.

Bei den Amateur-Sängern geht es aber nicht nur ums Musizieren, sondern auch um entspanntes Zusammensein. Sie wollen etwas miteinander als Gruppe schaffen, ohne jeden Leistungsgedanken. „Es ist ein Gemeinschaftserlebnis der analogen Welt“, erzählt der Chorleiter. Und dann berichtet er, wie er mit seinem Chorkonzept nach Südostasien reiste – und auch dort mit Menschen „Töne pflückte“.

Statt Schützenverein

Auch durch solche Erlebnisse findet ein Imagewechsel statt, Chorsingen wird wieder populär. Neue Formate, wie das Chorfest Frankfurt, das „Singen ohne Noten“ oder eben der Ich-kann-nicht-singen-Chor ersetzen traditionelle Altherren-Schützenvereinschöre. Chorgründungen nähmen zu, heißt es beim Deutschen Chorverband. Erstmalig seit dem ersten Weltkrieg gebe es seit wenigen Jahren eine positive Mitgliederentwicklung, vor allem durch Gründungen von Jazz- und Popchören, maßgeblich an Schulen.

Auch im Radialsystem ist man begeistert. Auf der Beamerleinwand wird gegen Ende des Vormittags eine Partitur abgespielt, die aus Buchstaben und kryptischen Zeichnungen besteht: Bögen, Strichen, Punkten. Sie schieben sich langsam über die Leinwand, und jeder kann selbst entscheiden, welche Töne und Rhythmen er daraus formt. Die Massenimprovisation ist ein schräges Stimmgewirr. Manche verwirrt sie. „Ich versteh‘ gar nichts mehr“, sagt eine junge Frau. Andere grooven selbstsicher mit. Hier spürt man dann doch die Kluft zwischen denjenigen mit musikalischer Erfahrung und den Anfängern. Irgendwie haspelt sich jeder durch die Melodien und Rhythmen. Yeah, ruft Betzner-Brandt ermutigend ins Mikro. Am Ende gibt es noch eine kleine Vorführung des UdK-Chores „Vocal Groove Generation“ mit Musikstudierenden. Und weil es ja auch um Spaß geht, singen schließlich alle: „Let Me Entertain You“, frei nach Robbie Williams.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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