Diesmal treffe ich mich mit Hatef, um mit ihm über die Haupbeschäftigung von Flüchtligen zu sprechen – das Warten. Wie als kleiner Fingerzeig muss ich zunächst selber warten. Hatef und ich waren zu unseren Treffen bisher beide immer pünktlich gekommen, diesmal sitze ich auf einer alten Parkbank direkt vor dem Camp. Es ist früh und nebelig, die Feuerstelle brennt schon, ein Obdachloser wirft Holzscheite hinein. Sonst ist es leer, die meisten schlafen noch. Ich hole mir einen Kaffee im Laden um die Ecke. Nach zwanzig Minuten habe ich alle gefragt, die durch das Camp gestiefelt sind – niemand weiß, wo Hatef ist. Nach einer halben Stunde, während es im Küchenzelt schon scheppert, fühle ich mich nutzlos, fehl am Platz und mache mir ein wenig Sorgen um Hatef. Dann gehe ich nach Hause.
Kurze Zeit später ruft er mich an, Soliparty am Abend zuvor, verschlafen. Wir verabreden uns für den Nachmittag. Warten habe in seinem Leben eine wichtige Rolle gespielt, erzählt er mir, noch halb verschlafen bei einer Tasse Tee. Warten, das fühle sich an wie ein Mönch in der Hölle. Jede Hölle sei unterschiedlich, bei Zarathustra sei sie aus Eis, im Islam aus Feuer. Jeder nehme das Warten unterschiedlich wahr. „Die Leute sagen mir oft, ich bin ungeduldig. Wenn ich länger warte, werde ich verrückt“, sagt er.
Nahe der Akropolis
Hatef erzählt von seiner Zeit in Athen. Nach seiner Flucht aus dem Iran musste er sechs Wochen lang in einer kleinen Wohnung mit acht Anderen auf ein Zeichen des Schmugglers warten. Obwohl er in der Nähe der Akropolis war, die er sich unbedingt anschauen wollte, konnte er nicht raus. Zu gefährlich. Es war August, Reisezeit, die Flughäfen voll von Menschen und Polizisten. Sie mussten warten.
Am schlimmsten sei das Warten, wenn man nicht wisse, wann jemand komme, die Ungewissheit, sagt Hatef. Manche warteten in der Athener Wohnung nur zwei Stunden. Dann hieß es sich gut anziehen, rasieren, hoffen, dass die internationale Grenzpolizei unaufmerksam sei. Andere warteten zwei Monate. „Das reduziert die Energie und Konzentration“, sagt Hatef. Ich solle mir vorstellen, ich wartete in einem Café auf jemanden, ohne zu wissen, ob er oder sie überhaupt komme. Eine merkwürdige Vorstellung für mich. „Dieses Warten macht uns schwach“, erklärt er. Trotzdem habe er es als neue Lebensbedingung akzeptieren müssen. Alternativlos.
Wie verbringt man diese Zeit des Wartens, will ich wissen. „Mit Träumen“, sagt Hatef. Man stelle sich seine Zukunft vor, jeder für sich, fantasiere von einem zukünftigen Leben mit einer Frau, an der Uni oder mit einer Arbeit. Träume davon, Sport zu machen, sich frei bewegen zu können und offen in einem Land leben zu können. Es sei so eine Sache mit diesen Träumen, sagt Hatef. „Kreativität und Kopfschmerzen“, lächelt er, Fantasien könnten beides auslösen. „Es ist wie mit den Augen“, sagt er mir, und reibt sich das Gesicht. „Augen brauchen einen Fixpunkt, um etwas zu erkennen.“ Wenn es den nicht gebe, wird aus den Träumen Aberglaube, oder eine Lüge. Ich bin nicht sicher, ob ich genau verstehe, was er meint. Wenn die Wirklichkeit niemals eintrete, setzt Hatef neu an, werden aus Hoffnungen Lügen.
Pässe durch die Türschlitze
Im Asylheim in Würzburg etwa wünschten sich die meisten einen Pass. Eine der kollektiven Fantasien im Heim sei, dass jemand die genehmigten Ausweise der Asylbewerber unter dem Türschlitz der Zimmer durchstecke. Viele glauben daran. „Das wird natürlich nicht passieren“, sage ich. „Natürlich nicht“, sagt Hatef. Aus den Hoffnungen und dem Unwissen der Bewohner über ihre Asylchancen sind hartnäckige Gerüchte geworden, mit denen sie sich selbst Hoffnung machen. Wenn diese Träume sich zu oft wiederholen, würden daraus Alpträume, sagt Hatef. Oder psychische Störungen. Ein Mann in seinem Asylheim habe seit zwölf Jahren jeden Tag auf seinen Gerichtstermin für den Asylantrag gewartet. Jeden Tag. Als Hatef mit ihm im Heim in Würzburg war, nahm er bereits starke Psychopharmaka. Und er besuchte regelmäßig eine imaginäre Freundin in der Stadt.
Mit dem Warten auf ihr Verfahren sind die Asylbewerber in die Passivität gezwungen. Und hilflos. „Im Heim wusste man, es gab zwei Richter. Die Frau war schnell, aber entschied oft negativ. Der Mann hat angeblich in sechs Jahren nur drei Akten gelesen.“ Auch wenn ich das nicht glauben kann, wird mir klar: Glück hat hier niemand.
Bloß keine Wiederholung
Hatef selbst hat für sich Wege gefunden, dem Zwang des zerstörerischen Wartens zu entfliehen. Er versuchte in seiner Zeit im Heim, immer andere Wege zur Sprachschule zu gehen. Bloß keine Wiederholung. Oft habe er sich so verirrt und sei zu spät gekommen, schmunzelt er, das mache er bis heute so. Lange hat er es trotzdem nicht ausgehalten. „Genug ist genug“, sagte er sich nach vielen Monaten im Heim aus einer großen Wut heraus.
„Ich konnte nicht mehr darauf warten, dass jemand anderes über mein Schicksal entscheidet.“ Überhaupt: Wie solle er hier ordentlich Deutsch lernen, wo er mit niemandem üben, sprechen, seine Kenntnisse anwenden könne? Das Schlimmste am Warten sei, wenn man nur noch über das Warten nachdenke, statt sein Leben zu leben. „Meine Strategie ist es, die Kontrolle zu überraschen“, sagt Hatef und meint damit die Behörden, von denen er abhängig ist. Mit drei Koffern und einer Mitfahrgelegenheit floh er vom einen auf den anderen Tag nach München. Ich verstehe, dass auch seine Arbeit im Protestcamp – obwohl Hatef inzwischen eine Anerkennung auf Asylrecht für die kommenden drei Jahre hat – eine Form dieser Strategie ist.
Dieser Beitrag ist Teil einer regelmäßigen Reportage über Hatefs Leben in und vor dem Flüchtlingscamp, die immer dienstags online erscheint
>> Mehr Informationen über die aktuelle Lage des Protestes und Camps gibt es auf:
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