Der Freitag: Frau Woehrl, Säure- und Brandattacken sind in Europa als Phänomen kaum bekannt. Wie kamen Sie als Fotografin zu diesem Thema?
Ann-Christine Woehrl: Meine erste Begegnung mit einem Brandopfer hatte ich in Deutschland. Auf einer Ausstellungseröffnung in München lernte ich Hans kennen, der als Kind einen Brandunfall hatte. Er betrat den Raum und ich merkte, wie das ganze Umfeld völlig unbeholfen auf sein vernarbtes Gesicht reagierte. Niemand wagte ihn anzuschauen. Er war quasi unsichtbar. Die Frage dahinter ist, wie wir mit Makeln oder Anderssein umgehen. Die Gesellschaft ist verantwortlich dafür, ob jemand ausgegrenzt wird oder nicht.
Sie haben zwei Jahre überlebende Frauen in Ländern begleitet, in denen Brand- und Säureanschläge täglich passieren. Wie haben Sie sich ihnen genähert?
Ich habe das Projekt mit der Acid Survivors Foundation und Partnerorganisationen realisiert. Den Frauen habe ich erklärt, was ich vorhabe. Dabei bin ich so behutsam wie möglich vorgegangen. Dass sich die Frauen öffnen, war die Voraussetzung für die Porträts. Das Wichtigste ist, ihnen zu zeigen, dass man sie wahrnimmt. Das Stigma ist so groß, dass sie in der Gesellschaft und teils in der eigenen Familie das Gefühl vermittelt bekommen, sie hätten keine Daseinsberechtigung mehr.
Viele Frauen sind grausam entstellt, ihr Anblick ist nicht einfach zu ertragen.
Meine Arbeit startete mit Neehaari, einem Mädchen aus Indien, das sich aus Verzweiflung und Angst vor ihrem gewalttätigen Mann selbst angezündet hatte. Ich habe zwei Wochen bei ihr und ihrer Familie gewohnt, da war von Anfang an ein tiefes Vertrauen. Zwischendurch habe ich die äußeren Narben einfach vergessen, weil es im Alltag um innere Verletzungen und andere Dinge ging. Aber es holt einen immer wieder ein. Manchmal traf es mich nach dem Aufwachen wie ein Schlag. Mein Gott, dachte ich dann, diese Schmerzen, die vielen Operationen.
Manche Frauen haben mit Ihnen zum ersten Mal über ihre Erlebnisse gesprochen.
Gerade bei Neehaari waren die Grenzen zwischen Fotografin und Vertrauensperson fließend. Das ist schwierig, weil ich wusste, dass ich irgendwann wieder weggehe. Wir sind weiter in Kontakt, aber sie hat viel zu bewältigen. Mit der Arbeit habe ich eine Verantwortung übernommen, von der ich selbst hoffe, dass ich sie immer stemmen kann.
Wie fotografiert man dann?
Es gab sehr intime Momente, in denen ich mich zurückgehalten habe. In Pakistan habe ich Nusrat kennengelernt, eine sehr lebendige Persönlichkeit, deren größtes Trauma ihre verlorenen Kopfhaare sind. Wir saßen einmal mit einer anderen Überlebenden zusammen, die Frauen alberten ausgelassen herum. Da nahm Nusrats Freundin ihr die Mütze ab. Und ich merkte, wie fragil diese sonst so selbstbewusste Person eigentlich ist. Ich ließ die Kamera in den Schoß sinken. Ich möchte die Frauen so fotografieren, wie sie sich zeigen möchten. Ich möchte sie nicht als Opfer darstellen, und sie wollen selbst auch nicht so gesehen werden.
Können Sie das mit Ihren Bildern verhindern?
Für die Porträtserie habe ich bewusst einen neutralen Hintergrund gewählt. Und ich habe mich nicht eingemischt, was Kleidung oder Pose betrifft – die Frauen sollten Regie führen. Das gibt ihnen Kraft und Würde.
Wie vermeidet man bei so expliziten Bildern Voyeurismus?
Für mich hat Voyeurismus etwas mit unaufgefordertem Hinschauen zu tun. Wenn die Frauen sich selbst präsentieren, ist es eher ein Sich-Mitteilen.
Sie sind für die Porträts in weit entferne Gesellschaften gereist. Wie kann man da verhindern, dass man diese Verbrechen als „fremde Probleme“ exotisiert?
In diesen Ländern haben die Brand- und Säureangriffe extreme Ausmaße angenommen – darauf muss man hinweisen. Aber es handelt sich um eine Form häuslicher Gewalt, die als Extrem exemplarisch für eine weltweite Form von Gewalt und für den ausgrenzenden Umgang damit steht. Diesen Bezug habe ich über die Texte im Buch und in der Ausstellung hergestellt.
Säureangriffe sind unsagbar grausam. Die Verätzungen fressen sich immer weiter in Knochen und Fleisch. Etwa die Hälfte der Opfer stirbt, die Überlebenden müssen jahrelang behandelt werden. Warum greifen Täter zu so einem Mittel?
Das passiert vor allem in Regionen, in denen Säure in der Arbeitswelt frei zugänglich ist, etwa bei der Baumwollproduktion in Pakistan. Schwefelsäure kann man da für Centbeträge kaufen.
Mit der Zerstörung des Gesichts zielen die Täter auch auf eine Auslöschung der Identität.
Ja, es geht darum, den Frauen ihre Weiblichkeit und Schönheit zu nehmen. Es gibt auch Frauen, Schwiegermütter oder Nachbarinnen, die solche Angriffe verüben, aber oft sind es Männer, die ihr Ehrgefühl wiederherstellen wollen. Häufig geht es um Mitgift, abgelehnte Avancen oder Eifersucht. Ich habe eine Frau getroffen, der die Genitalien verätzt wurden. Das ist der Angriff auf das Frau-Sein per se. Die Schuld daran wird oft auch noch den Überlebenden zugewiesen. Man redet ihnen ein, sie hätten die Strafe selbst provoziert.
Werden diese Taten bestraft?
Auch durch die Arbeit von NGOs sind neue Gesetze erlassen worden und die Zahlen gehen teils zurück. Bangladesch etwa, das Land mit den meisten verzeichneten Säureangriffen, hat 2002 den Acid Crime Control Act verabschiedet.
Die Dunkelziffer geht wohl weit über die 1.500 gemeldeten Taten jährlich hinaus. Warum werden viele Fälle nicht angezeigt?
Die Sorge vor den Konsequenzen ist groß. In Pakistan habe ich einen Fall kennengelernt, bei dem es um die Familienehre ging. Dort lehnte ein Vater ab, seine Tochter zu verheiraten, weil sie noch zu jung war. Der erboste Anwärter übergoss sie mit Säure. Die vermeintliche Schuld traf die gesamte Familie. Die Verlobung der Schwester wurde aufgelöst, der Vater verlor seinen Job. Gerade in ländlichen Gegenden wiegt die Hoffnung, die man mit einem Gerichtsprozess verbindet, weitaus weniger als die Angst vor den Folgen.
Gibt es Angriffe auf Männer?
In Kambodscha passiert das häufig, in Uganda sind es sogar 45 Prozent. Die Motive sind aber andere: Es geht da meist um Landstreitigkeiten, Eifersucht oder Rache gegen die gesamte Familie. Ich habe auch überlegt, Männer mit in das Projekt aufzunehmen. Ganz überwiegend sind aber Frauen betroffen, sodass ich mich dagegen entschieden habe.
Ist eine Rückkehr in das Alltagsleben überhaupt möglich?
Das ist ein sehr langer Weg. Um den Schritt in die Öffentlichkeit zu schaffen, braucht es den Rückhalt von Familie und Freunden. Ich habe da sehr unterschiedliche Geschichten kennengelernt. Neehaari arbeitet jetzt in einer Klinik für plastische Chirurgie und gründet gerade eine NGO für Brandopfer. Sie vermummt sich nicht mehr in der Öffentlichkeit. Neulich schickte sie mir Bilder von ihrem Geburtstag. Sie hat sich ein Tattoo stechen lassen.
Manche Frauen beschäftigen sich gezielt mit dem Äußeren.
Es ist wie eine Sublimierung des Traumas. Eine Frau eröffnet jetzt einen Schönheitssalon, eine andere unterrichtet in einer Modelschule Kommunikation. Und Nusrat, mit ihrem Kopf ohne Haare, arbeitet jetzt als Friseurin.
Sehen Sie Ihre Bilder als einen Schritt auf dem Weg der Frauen in die Öffentlichkeit?
Meine Fotos sind eine Aufforderung, hinzuschauen. Einmal ging ich mit Neehaari in ein Restaurant. Sie nahm zum ersten Mal ihren Schleier ab und erklärte den Tag danach zu ihrem persönlichen Unabhängigkeitstag. Dass dieser Mut durch die Ausstellung weitergetragen wird, ist meine große Hoffnung. Deshalb möchte ich die Bilder auch in den Ländern der Überlebenden zeigen.
Das Gespräch führte Juliane Löffler
Ann-Christine Woehrl, Jahrgang 1975, arbeitet als freie Fotografin. Ihre Porträtserie UN/SICHTBAR ist bis zum 11. Januar 2015 im Museum für Völkerkunde in München zu sehen. In der Edition Lammerhuber ist der dazugehörige Bildband IN/VISIBLE erschienen
Kommentare 4
das bild von Sokneang strahlt wohl nur so von kraft. man kann fast ihre gedanken erkennen, "seht her ich wurde äußerlich zerstört, aber mein ich lebt immer noch".
Dem kann ich nur zustimmen - sie wirkt zwar äußerlich angegriffen, aber ihr Charakter scheint stark. Und solche Menschen bewundere ich.
Das Menschen mit äußerlichen "Schäden" gerne mal nicht angeschaut werden und es schwerer haben, in die Gesellschaft aufgenommen zu werden, habe ich auch schon des Öfteren erlebt, was eine Schande ist. Ihr Körper mag zwar nicht perfekt sein, aber sie sind immer noch Menschen mit starkem Charakter und starkem Willen.
Mich beeindruckt auch in Zeiten, wo die Masse der digital erzeugten Bewegtbildschnipsel allmählich die der Knipsfotos übersteigt, die Fotografie immer noch am meisten. Ich sehe mir so ein Foto an und ein Film im Kopf wird ausgelöst, so wie das auch bei Literatur der Fall ist / sein kann. Es ist vielleicht die beste, eindringlichste, beeindruckendste Art, Menschen darzustellen, denen solche grausamen Dinge angetan wurden. In diesem Fall nicht, um die Täter anzuklagen (dies "nur" implizit), oder um nach den Ursachen und Umständen zu Fragen, die solche Taten ermöglichen bzw. herausfordern, sondern um zu helfen, dass deren Absichten, nämlich nicht nur einen Menschen zu verletzen, sondern ein Leben zu zerstören, letztlich nicht von Erfolg gekrönt sind, also das Weiterleben zu zeigen.
Danke, Juliane Löffler, für diesen Beitrag! Bin gespannt und freue mich auf die nächsten. :-)
Liebe Frau Löffler,
dem Dank von Goedzak schließe ich mich an.
Gleichzeitig mache ich auf das Buch „Le dita tagliate“ (die abgeschnittenen Finger) der italienischen Anthropologin Paola Tabet aufmerksam, das dieser Tage erschienen ist. Aus der Präsentation in der Tageszeitung Il Fatto Quotidiano: „Mädchen, die mit 10 Jahren zur Ehe gezwungen werden und die nach der Hochzeitsnacht mit dem dreißigjährigen Mann verbluten. Andere müssen Massenvergewaltigungen über sich ergehen lassen, weil sie sich weigern, ihren ‘ehelichen Pflichten‘ nachzukommen. Einigen werden 6 Finger als Reverenz gegenüber den Toten der Gemeinschaft abgeschnitten: Es bleiben ihnen 4, nicht genug um Schreiben zu lernen, aber ausreichend für die Arbeit im Haushalt. Andere schließlich, die ‘Widerspenstigen‘, werden mit einem glühenden Holzscheit zwischen den Beinen diszipliniert oder mit Schlägen oder dem systematischen Entzug von Wasser und Nahrung“. Und: „Um eine marxistische Kategorie zu verwenden, spricht Tabet von ‘Klassengewalt‘. Ihr zufolge bewirken die ‘beinahe vollständige Konzentration der Reichtümer in männlicher Hand‘ und die endemische ‘weibliche wirtschaftliche Abhängigkeit‘ ein Teilung der Welt in zwei große Klassen: Die männliche, die die weibliche ausbeutet.“
Dieses Buch sollte dringend ins Deutsche übertragen werden.
Beste Grüße, MS