"Wir müssen da hinschauen"

Im Gespräch Die Fotografin Ann-Christine Woehrl hat Frauen porträtiert, die Opfer von Säureanschlägen geworden sind
Ausgabe 32/2014

Der Freitag: Frau Woehrl, Säure- und Brandattacken sind in Europa als Phänomen kaum bekannt. Wie kamen Sie als Fotografin zu diesem Thema?

Ann-Christine Woehrl: Meine erste Begegnung mit einem Brandopfer hatte ich in Deutschland. Auf einer Ausstellungseröffnung in München lernte ich Hans kennen, der als Kind einen Brandunfall hatte. Er betrat den Raum und ich merkte, wie das ganze Umfeld völlig unbeholfen auf sein vernarbtes Gesicht reagierte. Niemand wagte ihn anzuschauen. Er war quasi unsichtbar. Die Frage dahinter ist, wie wir mit Makeln oder Anderssein umgehen. Die Gesellschaft ist verantwortlich dafür, ob jemand ausgegrenzt wird oder nicht.

Sie haben zwei Jahre überlebende Frauen in Ländern begleitet, in denen Brand- und Säureanschläge täglich passieren. Wie haben Sie sich ihnen genähert?

Ich habe das Projekt mit der Acid Survivors Foundation und Partnerorganisationen realisiert. Den Frauen habe ich erklärt, was ich vorhabe. Dabei bin ich so behutsam wie möglich vorgegangen. Dass sich die Frauen öffnen, war die Voraussetzung für die Porträts. Das Wichtigste ist, ihnen zu zeigen, dass man sie wahrnimmt. Das Stigma ist so groß, dass sie in der Gesellschaft und teils in der eigenen Familie das Gefühl vermittelt bekommen, sie hätten keine Daseinsberechtigung mehr.

Viele Frauen sind grausam entstellt, ihr Anblick ist nicht einfach zu ertragen.

Meine Arbeit startete mit Neehaari, einem Mädchen aus Indien, das sich aus Verzweiflung und Angst vor ihrem gewalttätigen Mann selbst angezündet hatte. Ich habe zwei Wochen bei ihr und ihrer Familie gewohnt, da war von Anfang an ein tiefes Vertrauen. Zwischendurch habe ich die äußeren Narben einfach vergessen, weil es im Alltag um innere Verletzungen und andere Dinge ging. Aber es holt einen immer wieder ein. Manchmal traf es mich nach dem Aufwachen wie ein Schlag. Mein Gott, dachte ich dann, diese Schmerzen, die vielen Operationen.

Manche Frauen haben mit Ihnen zum ersten Mal über ihre Erlebnisse gesprochen.

Gerade bei Neehaari waren die Grenzen zwischen Fotografin und Vertrauensperson fließend. Das ist schwierig, weil ich wusste, dass ich irgendwann wieder weggehe. Wir sind weiter in Kontakt, aber sie hat viel zu bewältigen. Mit der Arbeit habe ich eine Verantwortung übernommen, von der ich selbst hoffe, dass ich sie immer stemmen kann.

Wie fotografiert man dann?

Es gab sehr intime Momente, in denen ich mich zurückgehalten habe. In Pakistan habe ich Nusrat kennengelernt, eine sehr lebendige Persönlichkeit, deren größtes Trauma ihre verlorenen Kopfhaare sind. Wir saßen einmal mit einer anderen Überlebenden zusammen, die Frauen alberten ausgelassen herum. Da nahm Nusrats Freundin ihr die Mütze ab. Und ich merkte, wie fragil diese sonst so selbstbewusste Person eigentlich ist. Ich ließ die Kamera in den Schoß sinken. Ich möchte die Frauen so fotografieren, wie sie sich zeigen möchten. Ich möchte sie nicht als Opfer darstellen, und sie wollen selbst auch nicht so gesehen werden.

Können Sie das mit Ihren Bildern verhindern?

Für die Porträtserie habe ich bewusst einen neutralen Hintergrund gewählt. Und ich habe mich nicht eingemischt, was Kleidung oder Pose betrifft – die Frauen sollten Regie führen. Das gibt ihnen Kraft und Würde.

Wie vermeidet man bei so expliziten Bildern Voyeurismus?

Für mich hat Voyeurismus etwas mit unaufgefordertem Hinschauen zu tun. Wenn die Frauen sich selbst präsentieren, ist es eher ein Sich-Mitteilen.

Sie sind für die Porträts in weit entferne Gesellschaften gereist. Wie kann man da verhindern, dass man diese Verbrechen als „fremde Probleme“ exotisiert?

In diesen Ländern haben die Brand- und Säureangriffe extreme Ausmaße angenommen – darauf muss man hinweisen. Aber es handelt sich um eine Form häuslicher Gewalt, die als Extrem exemplarisch für eine weltweite Form von Gewalt und für den ausgrenzenden Umgang damit steht. Diesen Bezug habe ich über die Texte im Buch und in der Ausstellung hergestellt.

Säureangriffe sind unsagbar grausam. Die Verätzungen fressen sich immer weiter in Knochen und Fleisch. Etwa die Hälfte der Opfer stirbt, die Überlebenden müssen jahrelang behandelt werden. Warum greifen Täter zu so einem Mittel?

Das passiert vor allem in Regionen, in denen Säure in der Arbeitswelt frei zugänglich ist, etwa bei der Baumwollproduktion in Pakistan. Schwefelsäure kann man da für Centbeträge kaufen.

Mit der Zerstörung des Gesichts zielen die Täter auch auf eine Auslöschung der Identität.

Ja, es geht darum, den Frauen ihre Weiblichkeit und Schönheit zu nehmen. Es gibt auch Frauen, Schwiegermütter oder Nachbarinnen, die solche Angriffe verüben, aber oft sind es Männer, die ihr Ehrgefühl wiederherstellen wollen. Häufig geht es um Mitgift, abgelehnte Avancen oder Eifersucht. Ich habe eine Frau getroffen, der die Genitalien verätzt wurden. Das ist der Angriff auf das Frau-Sein per se. Die Schuld daran wird oft auch noch den Überlebenden zugewiesen. Man redet ihnen ein, sie hätten die Strafe selbst provoziert.

Werden diese Taten bestraft?

Auch durch die Arbeit von NGOs sind neue Gesetze erlassen worden und die Zahlen gehen teils zurück. Bangladesch etwa, das Land mit den meisten verzeichneten Säureangriffen, hat 2002 den Acid Crime Control Act verabschiedet.

Die Dunkelziffer geht wohl weit über die 1.500 gemeldeten Taten jährlich hinaus. Warum werden viele Fälle nicht angezeigt?

Die Sorge vor den Konsequenzen ist groß. In Pakistan habe ich einen Fall kennengelernt, bei dem es um die Familienehre ging. Dort lehnte ein Vater ab, seine Tochter zu verheiraten, weil sie noch zu jung war. Der erboste Anwärter übergoss sie mit Säure. Die vermeintliche Schuld traf die gesamte Familie. Die Verlobung der Schwester wurde aufgelöst, der Vater verlor seinen Job. Gerade in ländlichen Gegenden wiegt die Hoffnung, die man mit einem Gerichtsprozess verbindet, weitaus weniger als die Angst vor den Folgen.

Gibt es Angriffe auf Männer?

In Kambodscha passiert das häufig, in Uganda sind es sogar 45 Prozent. Die Motive sind aber andere: Es geht da meist um Landstreitigkeiten, Eifersucht oder Rache gegen die gesamte Familie. Ich habe auch überlegt, Männer mit in das Projekt aufzunehmen. Ganz überwiegend sind aber Frauen betroffen, sodass ich mich dagegen entschieden habe.

Ist eine Rückkehr in das Alltagsleben überhaupt möglich?

Das ist ein sehr langer Weg. Um den Schritt in die Öffentlichkeit zu schaffen, braucht es den Rückhalt von Familie und Freunden. Ich habe da sehr unterschiedliche Geschichten kennengelernt. Neehaari arbeitet jetzt in einer Klinik für plastische Chirurgie und gründet gerade eine NGO für Brandopfer. Sie vermummt sich nicht mehr in der Öffentlichkeit. Neulich schickte sie mir Bilder von ihrem Geburtstag. Sie hat sich ein Tattoo stechen lassen.

Manche Frauen beschäftigen sich gezielt mit dem Äußeren.

Es ist wie eine Sublimierung des Traumas. Eine Frau eröffnet jetzt einen Schönheitssalon, eine andere unterrichtet in einer Modelschule Kommunikation. Und Nusrat, mit ihrem Kopf ohne Haare, arbeitet jetzt als Friseurin.

Sehen Sie Ihre Bilder als einen Schritt auf dem Weg der Frauen in die Öffentlichkeit?

Meine Fotos sind eine Aufforderung, hinzuschauen. Einmal ging ich mit Neehaari in ein Restaurant. Sie nahm zum ersten Mal ihren Schleier ab und erklärte den Tag danach zu ihrem persönlichen Unabhängigkeitstag. Dass dieser Mut durch die Ausstellung weitergetragen wird, ist meine große Hoffnung. Deshalb möchte ich die Bilder auch in den Ländern der Überlebenden zeigen.

Das Gespräch führte Juliane Löffler

Ann-Christine Woehrl, Jahrgang 1975, arbeitet als freie Fotografin. Ihre Porträtserie UN/SICHTBAR ist bis zum 11. Januar 2015 im Museum für Völkerkunde in München zu sehen. In der Edition Lammerhuber ist der dazugehörige Bildband IN/VISIBLE erschienen

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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