Der Außerirdische

Japan Der neue Ministerpräsident Japans ist ähnlich unkonventionell wie einst Junichiro Koizumi. Vielleicht ein Vorteil. Yukio Hatoyama steht vor schier ­unlösbaren Aufgaben

Japan ist der Vergangenheit überdrüssig. Die zerknitterten Gesichter der seit über 50 Jahren regierenden Liberaldemokraten (LDP) waren ebenso austauschbar wie ihre pechschwarzen Anzüge und ihre ewig wiederkehrenden Korruptionsaffären. Der erste Nonkonformist, der von dieser Wechselstimmung profitierte, kam noch selbst aus den Reihen der LDP: Junichiro Koizumi erzielte im Jahr 2001 einen Erdrutschsieg, obwohl – nein: weil – er langhaarig, geschieden und bekennender Heavy-Metal-Fan war, und regierte dann bis 2006. Ihm folgten in raschem Wechsel wieder steinerne Bürokraten, die man sich ebenso an der Spitze eines kommunistischen Politbüros vorstellen könnte.

Kokett oder katastrophal

Der künftige Premier hat ein anderes Parteibuch und ist nicht so eloquent, aber ähnlich ungewöhnlich wie Koizumi: Yukio Hatoyama, der Vorsitzende der Demokraten (DPJ). Der 62-Jährige wirkt jugendlich und in einer nach wie vor streng patriarchalen Gesellschaft wie ein Softi. Während ihn die Kommentatoren als „japanischen Kennedy“ apostrophieren, hat man ihm – seiner auseinander stehenden Augen wegen – in den volkstümlichen Yakitori-Grillstuben den Spitznamen „der Außerirdische“ gegeben. Seine Frau – eine Autorin esoterischer Bücher – passt gut zu diesem Image. Steht er vor Mikrofonen, neigt der bekennende Schmetterlingssammler zu Improvisationen.

Er habe „noch keine Zeit“ gehabt, sich um die Besetzung der wichtigsten Ministerien zu kümmern, verkündete er nach dem Wahlsieg. Ein neu zu schaffendes „strategisches Amt“ werde sich jedenfalls darum kümmern, „welche generelle Richtung das Land nehmen muss“. Er, der designierte Premier, wisse das noch nicht? Das ist entweder kokett oder katastrophal.

Jedenfalls müssen sich die Japaner nicht darum sorgen, dass Hatoyama bestechlich ist. Dafür ist er zu reich und gilt als der wohlhabendste Abgeordnete des ganzen Landes. Wie viele seiner Konkurrenten entstammt er einer Politikerdynastie, die wie im Feudalismus von Generation zu Generation Macht und Einfluss vererbt. Einer seiner Urgroßväter war Parlamentspräsident Ende des 19. Jahrhunderts, einer seiner Großväter Ministerpräsident Anfang der fünfziger Jahre – bis er dem Großvater des jetzt von Yukio Hatoyama abgelösten Taro Aso unterlag. Sein Vater schließlich war Außenminister. Der mütterliche Zweig der Familie stammt aus dem Geldadel und besitzt den Reifenkonzern Bridgestone. Mit diesem Vermögen finanzierte die Mutter die politischen Ambitionen ihres Sohnes mit umgerechnet vielen Milliarden (!) Euro.

Hatoyama junior begann konventionell und übernahm 1986 für die LDP den Wahlkreis seines Vaters auf der nördlichen Insel Hokkaido. 1993 gründete er mit dem mächtigen LDP-Rebellen Ichiro Ozawa die neue Formation Sakigake, die an einer kurzlebigen Koalition mit der LDP beteiligt war. Drei Jahre später gehörten Ozawa, Yukio und sein Bruder Kunio Hatoyama zu den Gründern der DPJ, die bald zum Sammelbecken aller LDP-Dissidenten avancierte.

Öffnung der „Japan AG“

Innerhalb der Demokratischen Partei stand Yukio Hatoyama lange im Schatten Ozawas. Erst als der im Mai über eine Korruptionsaffäre stürzte, wurde er mit knapper Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt. Die zentralen Slogans seines Wahlkampfes waren das inhaltsleere, aber an Barack Obamas Change angelehnte Seikenkotai, zu deutsch „Machtwechsel“ sowie das links schillernde Yuai (Brüderlichkeit). Tatsächlich tritt der Milliardärssohn als Anwalt der kleinen Leute und Verlierer der Globalisierung auf. „Unter dem Prinzip der Brüderlichkeit würden wir keine Politik betreiben, die Bereiche mit Bedeutung für menschliches Leben – wie Landwirtschaft, Umwelt und Medizin – der Gnade der Globalisierung ausliefert“, sagte er im Wahlkampf.

Kritik an den USA prägt bisher die außenpolitischen Optionen Hatoyamas. Allerdings sind die Töne des vergangenen Winters, als die Demokraten den US-Krieg in Afghanistan als Bruch der UN-Charta kritisierten und einen Abbruch des japanischen Beistands (Tankschiffe im Indischen Ozean) forderten, im Wahlkampf sehr leise geworden. Dennoch will Hatoyama die Geheimvereinbarung über die Lagerung von US-Atomwaffen in Japan, eines der großen Tabus der Nachkriegsgeschichte, „auf den Prüfstand stellen“. Doch entscheidend für das Schicksal seiner Regierung wird die Wirtschaftspolitik. Nach dem Börsenkrach vor 20 Jahren trat Japan in eine Stagnationsphase mit Nullwachstum ein. Ein Absturz konnte nur vermieden werden, indem der Staat milliardenschwere Konjunkturpakete auflegte. So explodierte die Verschuldung der öffentlichen Kassen von null auf etwa 180 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die aktuelle Weltkrise ließ die Arbeitslosigkeit auf für Japan ungewöhnliche 3,6 Millionen hochschnellen, hinzu kommt eine spürbare Deflation – die Verbraucherpreise sanken zuletzt um 2,2 Prozent.

Kein „Ritus“ der Seelen

Die internationale Finanzwirtschaft drängt in dieser Situation auf eine weitgehende Öffnung der „Japan AG“, die in vielem der „Deutschland AG“ ähnelt, die durch die Schröderschen Reformen zerstört wurde. Diese Öffnung hat in Japan unter Koizumi begonnen, wurde aber von seinen liberaldemokratischen Nachfolgern gestoppt.

Ein dritter Weg zwischen lähmendem Status Quo und der von Washington und London gewünschten Deregulierung wäre die Umorientierung des Exports von Nordamerika auf China. Peking stellt Tokio nämlich keine wirtschaftlichen Bedingungen, sondern „nur“ politische: das Bereuen der Verbrechen der Besatzungszeit 1931 bis 1945. Hatoyama hat signalisiert, er sei dazu bereit: Ehrenbesuche am Yasukuni-Schrein, wo man nach shintoistischem Ritus der „Seelen“ auch der Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkrieges gedenkt, wird es in seiner Amtszeit nicht geben, weder von ihm noch von seinen Ministern, kündigte er an.

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