Wie tief die gegenwärtige serbische Regierung in einem Sumpf aus Verbrechen und Gewalt watet, zeigen die jüngsten Nachrichten aus Belgrad. Hätte sich irgend etwas Vergleichbares unter dem früheren Präsidenten Milosevic ereignet, würden die NATO und andere Verteidiger der Menschenrechte von einem bolschewistischen Putsch sprechen. Aber seit der Oberschurke am 28. Juni 2001 nach Den Haag ausgeliefert wurde, ist Serbien zur Terra Incognita der Neuen Weltordnung geworden - es sei denn, es wird gerade einmal ein leibhaftiger Ministerpräsident ermordet. Auf diese Weise schaffte es Zoran Djindjic nach seinem Tod am 11. März wenigstens für zwei Tage auf die Titelseiten westlicher Tageszeitungen.
Um die Dimensionen der Entwicklung verstehen zu können, sei ein Vergleich mit der Ermordung von John F. Kennedy gewagt - tatsächlich war der charismatische Djindjic dem US-Präsidenten mit seiner Jugendlichkeit und seinem Charme durchaus ähnlich. In beiden Fällen wurde der Anschlag schnell den "Roten" in die Schuhe geschoben - damals wurde Castro, diesmal Milosevic als Drahtzieher verdächtigt. Ebenfalls gab es damals wie heute ernstzunehmende Hinweise auf die Verwicklung des organisierten Verbrechens. Wie aber hätte die Welt 1963 reagiert, wäre ein glaubhafter Zeuge aufgetaucht, der einen politischen Rivalen aus Kennedys eigener Partei bezichtigt? Der also aussagt, dass Lee Harvey Oswald vor dem Attentat mehrfach von - sagen wir - Lyndon B. Johnson besucht wurde? Genau das ist Mitte Juni in Serbien passiert. Slavomir Bandjur, seit vielen Jahren Wärter im Belgrader Zentralgefängnis, berichtete von heimlichen Visiten des derzeitigen Vize-Premierministers Cedomir Jovanovic beim 2001 inhaftierten Dusan Spasojevic - einem der mutmaßlichen Djindjic-Killer.
Der Mordverdächtige kann allerdings nicht mehr darüber befragt werden, ob und weshalb ihn der hochrangige Politiker kontaktiert hat. Spasojevic wurde nämlich seinerseits liquidiert, bevor er plaudern konnte - nicht anders als vor 40 Jahren Lee Harvey Oswald. Bei der Fahndung nach den Djindjic-Mördern wurden Spasojevic und sein Kumpan Mile Lukovic Kum von der serbischen Polizei erschossen, weil sie sich angeblich mit Waffengewalt ihrer Verhaftung widersetzten. Die Darstellung ist zweifelhaft: So soll sich die Schießerei angeblich am 27. März zugetragen haben. Aber zunächst hatte die serbische Regierung den 17. März als Tag der Festnahme angegeben, und so stand es auch am 19. März in den Zeitungen. Damals war noch gesagt worden, der Gangster sei wegen der Verletzungen bei der Festnahme ins Gefängnishospital überstellt worden. Tatsächlich zeigen die Fernsehbilder des ominösen 27. März blutige Schwellungen in den Gesichtern der Leichen. "Es ist offensichtlich, dass Lukovic und Spasojevic liquidiert wurden, damit sie nicht aussagen. Es ist auch offensichtlich, dass beide gefoltert wurden", schlussfolgert Spomenka Deretic´ im oppositionellen Infodienst Artel, der nicht auf serbischem Boden, sondern nur in den freien Lüften des Cyberspace betrieben werden kann (www.artel.co.yu).
Staatsstreich gegen Kostunica
Man könnte die Zeugenaussagen des Gefängniswärters als nicht relevant vom Tisch wischen, würden sie nicht von der bei weitem wichtigsten Partei im Lande gestützt, der Demokratischen Partei Serbiens (DSS) des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica. Der und die DSS waren es, die Milosevic und die Sozialisten im Oktober 2000 von der Macht verdrängten - und die bald ihrerseits von Djindjic und seinen Gefolgsleuten in der Demokratischen Partei (DS) verdrängt wurden.
Rekapitulieren wir die Stationen dieses "Staatsstreichs" - so der Ausdruck in einer Presseerklärung Kostunicas vom Sommer 2002: Am 17. Dezember 1999 versammelten Joschka Fischer und (die damalige US-Außenministerin) Albright die namhaftesten jugoslawischen Oppositionellen am Rande eines G-8-Treffens in einem fensterlosen Raum des Interconti-Hotels an der Budapester Straße in Berlin. Mit von der Partie: Zoran Djindjic ... Die wirklich kooperationswilligen Milosevic-Gegner einigten sich auf den bis dahin weitgehend unbekannten Kostunica als Präsidentschaftskandidaten." (Spiegel, 41/2000) Die Strategie hatte Erfolg. "Nur weil Djindjic auf seine eigene Kandidatur verzichtete und als Königsmacher den wenig polarisierenden Kostunica favorisierte, konnte die Opposition ... die nötige Schlagkraft mobilisieren", kommentierte der Spiegel kurz nach dem Sturz von Milosevic. Der Kostunica-Bonus war auch ausschlaggebend dafür, dass das DOS-Oppositionsbündnis die Wahlen zum serbischen Parlament im Dezember 2000 gewann: Obwohl Djindjic der designierte Premier von DOS war, wurde er in den Wahlkampfmaterialien nirgends erwähnt, sein Konterfei war auf Plakaten nicht zu sehen. Auf dem Stimmzettel stand über der DOS-Liste in großen Lettern DR. VOJISLAV Kostunica, erst unter ferner liefen folgte Djindjic.
Doch der neue Präsident machte sich im Westen als Kritiker des Haager Tribunals und der NATO schnell unbeliebt. Ende Juli 2002 schloss die Djindjic-hörige DOS-Mehrheit die Kostunica-Partei aus dem DOS-Bündnis aus, erkannte ihr alle Sitze im serbischen Parlament ab und schanzte die frei werdenden Mandate eigenen Leuten zu. Der Einspruch des Verfassungsgerichts wurde von der Regierung ebenso ignoriert wie ein Jahr zuvor bei der Auslieferung Milosevics nach Den Haag.
Kostunica appellierte in dieser Lage direkt an das Volk und kandidierte für das Amt des serbischen Präsidenten. Er gewann beide Stichwahlen im Oktober und Dezember 2002 souverän mit jeweils etwa 60 Prozent der Stimmen. Trotzdem konnte er den Posten nicht übernehmen, da in beiden Fällen die vorgeschriebene Wahlbeteiligung von mindestens 50 Prozent um jeweils etwa fünf Prozent unterschritten worden war. Die Djindjic-Demokraten hatten Wahlboykott souffliert und - so jedenfalls der Vorwurf Kostunicas - die Statistiken mit 835.000 Geisterwählern aufgebläht, um das erforderliche Quorum nach oben zu manipulieren. Statt Kos?tunica bekam Djindjics Parteigängerin Natasa Micic das höchste Amt im Staat - als Parlamentspräsidentin stand ihr das kommissarisch zu.
Zu Beginn dieses Jahres war Kostunica aber immer noch Präsident Jugoslawiens. Mit der Auflösung des Bundesstaates fiel im Februar auch diese, seine letzte Bastion. Erneut wurde die serbische Verfassung gebrochen: Entgegen der Bestimmung, wonach bei grundlegenden Veränderungen - und das Ende Jugoslawiens ist ja wohl eine solche - zwei Drittel im Parlament zustimmen müssten, fand DOS die einfache Mehrheit ausreichend.
Endlich herrscht Ruhe im Land
Nach dem Tod Djindjics nutzte die Zufalls-Präsidentin Micic ihre neue Machtfülle, um den Ausnahmezustand zu verhängen - eine Maßnahme, die bisher in keinem demokratischen Land nach ähnlichen Bluttaten für notwendig befunden worden war, weder nach der Ermordung Kennedys, noch der Olof Palmes. Die Pressezensur war total - über das Verbrechen und seine Aufklärung durften nur die Regierungsverlautbarungen gedruckt werden. Zahlreiche Zeitungsausgaben wurden beschlagnahmt, die zwei wichtigsten DOS-kritischen Blätter dauerhaft verboten, verfassungstreue Richter suspendiert. Während sich die Verhaftungen zunächst gegen das organisierte Verbrechen und Anhänger der rechten und linken Opposition richteten, kam bald auch die DSS ins Fadenkreuz. Zwei Berater Kostunicas wurden der Verwicklung in das Attentat angeklagt. Demgegenüber gab es keinerlei Ermittlungen in den eigenen Reihen, obwohl die Polizei-Sondereinheit Rote Barette, die angeblich zusammen mit der Zemun-Mafia das Komplott gegen Djindjic geschmiedet hat, seit Anfang 2002 dem DOS-Innenminister Dusan Mihaijlovic unterstand.
Nach offiziellen Angaben wurden bei der Großfahndung seit dem 11. März 10.111 Personen festgenommen, auf dem Höhepunkt der Razzien waren über 4.000 inhaftiert - wochenlang, ohne jeden Zugang von Rechtsanwälten. Selbst nach der Aufhebung des Notstandes Ende April blieben die meisten davon im Gefängnis - der Innenminister gab am 26. Mai ihre Zahl mit 2.599 an. Um sich ein Bild von den Dimensionen zu machen: In Deutschland mit seiner etwa zehn Mal größeren Bevölkerungszahl wären das über 100.000 Festnahmen, über 25.000 dauerhaft Gefangene. Dafür müsste man hierzulande schon das eine oder andere Fußballstadion zum Internierungslager machen. Zur gleichen Zeit bekam Serbien durch seine Aufnahme in den Europarat eine Art demokratisches Gütesiegel.
Derzeit hat das Land keinen gewählten Präsidenten und keinen gewählten Premier. Mit Milosevic und Seselj sitzen die Führer der größten Oppositionsparteien in Haager Zellen. Dem als einzigem demokratisch legitimierten Politiker, dem jugoslawischen Präsidenten Kostunica, sind der Staat und damit das Amt genommen worden. Wahlen sollen nach dem Willen der neuen Machthaber vorerst nicht stattfinden. Die Polizeiakten über den Tod Djindjics sind unter Verschluss.
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