Sind Schachspieler nur Rechenkünstler?

Schach Im Schach geht es vermeintlich nur ums Kopfrechnen. Wer mehr Züge im Voraus berechnen kann, gewinnt. Dabei wird das Spielgefühl häufig unterschätzt.

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Von Kai Heermann

Es war ein alter Schachcomputer von Mephisto, der mich begeisterte. Mein Vater steckte ihn zu jeder Familienfeier ein. Wenn ich mich dort langweilte, schnappte ich mir das elektronische Brett und fing an, an einem freien Tisch Schach zu spielen. Der Gegner damals war, so würde man auf neudeutsch sagen, eine KI. Keine besonders starke, doch völlig ausreichend, um einen Sechsjährigen schnell alt aussehen zu lassen.

Wenn ich heute über die Partien nachdenke, fällt mir auf, dass sie eigentlich immer demselben Schema folgten: Die Eröffnung verlief ruhig. Zuerst führte ich meinen Zug aus. Anschließend machte der Gegner seinen Zug. So ging es weiter. Zug für Zug. Einigermaßen spannend blieb es meist nur bis zum Mittelspiel. Sobald alle Figuren entwickelt waren und die Fronten sich gegenüberstanden, verlor ich schnell die Übersicht. Ich berechnete Schlag- und Schachzüge, potenzielle Drohungen, ging Möglichkeit für Möglichkeit durch, doch der Computer rechnete meistens eine Variante tiefer als ich. Wie gesagt, ich war sechs.

Varianten berechnen, so nennt man es im Schachjargon, wenn ein Spieler darüber nachdenkt, welcher Zug auf den nächsten folgen könnte. Profis berechnen mehrere Varianten, mehrere Züge problemlos hintereinander; Amateure geraten teilweise bei der ersten Verästelung ins Straucheln. Einmal falsch gerechnet, schon ist der liebgewonnene Läufer weg, im schlimmsten Fall sogar die Partie verloren. Schach, nicht mehr und nicht weniger als eine große Rechenaufgabe? Schon nach zwei Zügen sind über 70.000 verschiedene Stellungen möglich, die Zahl der denkbaren Spielverläufe ist noch bedeutend größer. Das Geheimnis des Jahrhunderte alten Strategiespiels scheint in eine simple Formel zu münden: Wer tiefer rechnen kann, ist der bessere Schachspieler.

Vor kurzem war Vincent Keymer, Deutschlands bester Schachspieler, im Aktuellen Sportstudio zu Gast. Seit seinem fünften Lebensjahr spielt er Schach. Schon damals gilt er als Ausnahmetalent. „Warum ich das besonders gut kann, weiß ich selbst nicht so genau“, gesteht er. Das ZDF zeigt einen alten Clip des elfjährigen Vincent, wie dieser einen langen Variantenbaum auf einer noch längeren Tafel malt. Anschließend soll Keymer, mittlerweile 19, mit Hilfe einer Schachsoftware erklären, wie modernes Schach funktioniert. „Viele Buchstaben, viele Zahlen“, stellt Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein fest. Variantenbäume, Zahlen und Buchstaben: es entsteht der Eindruck, das ZDF wolle unbedingt vermitteln, dass es sich bei Schach um ein rein mathematisches Spiel handelt. Und die Spitzenspieler sind im besten Fall wie Maschinen, die eine Berechnung nach der anderen durchgehen.

Schach – eine feinsinnige Angelegenheit

Dabei ist es nicht grundlegend falsch, Schach als ein Kopfrechenspiel besonderer Art zu betrachten. Doch Schach ist facettenreicher. Neben dem mathematischen Anteil gibt es auch eine sinnliche Seite. Daher sind ansehnliche Partien eher mit einem Sinfoniekonzert vergleichbar als mit einem Uhrwerk. Die Streicher, Blasinstrumente und dahinter lauernde Schlagwerke haben ihren festen Ort; genauso sind auch die Bauern, Springer und Türme zunächst in Reih und Glied postiert. Der Dirigent gibt den Takt, den Rhythmus vor; er macht Handzeichen, wenn ein Instrument zum Einsatz kommen soll. Auch der Schachspieler dirigiert seine Figuren und bestimmt damit den Rhythmus des Spiels.

Auf der Welt gibt es aktuell keinen, der die Figuren besser zu dirigieren vermag als der Norweger Magnus Carlsen. Seit 2010 ist er die Nummer eins der Welt. Was ihn so stark macht? „Ein Gefühl für Schach, was einfach besser ist als das vom Rest“, antwortet Keymer auf die Frage von Müller-Hohenstein, was Carlsen besser könne als alle anderen. Ein Gefühl ist es also. Entweder man hat es oder man hat es nicht. Wie in jeder anderen Sportart auch.

Passenderweise lautet der Titel des 2016 erschienenen Dokumentarfilms über Carlsen „Der Mozart des Schachs“ und Mozart hat bekanntermaßen über 50 Sinfonien komponiert. Carlsen wird mit dem Salzburger Genie verglichen, nicht etwa mit Newton oder Archimedes. Schach ist auch Mathematik, aber eben nicht ausschließlich. Manchmal gleicht Schach eher der Musik oder Kunst.

Um ein außergewöhnlicher Schachspieler zu werden, bedarf es einer besonderen Intuition. Jeder Spieler hat seinen eigenen Stil, seine eigene Handschrift, völlig losgelöst von mathematischer Genauigkeit. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, was Spieler wie Keymer an diesem Spiel so schätzen. „Die Möglichkeit, allem seinen eigenen Touch und seine eigenen Ideen aufzubinden“, sagt er.

Der Charakter der Spieler bestimmt den Charakter des Spiels. Dies wird deutlich, wenn man in eine Zeit zurückgeht, in der Spieler noch nicht auf leistungsstarke Computerprogramme zurückgreifen konnten, um sich vorzubereiten. Ex-Weltmeister Garri Kasparow, ein aufbrausender Typ wie er im Buche steht, wandelte nicht selten seine Energie (seine Mutter sagte mal über ihn, er habe Energie wie Dynamit) in einen aggressiven Spielstil um. Viele seiner Züge waren feurig wie sein Temperament. Sein Widersacher, Ex-Weltmeister Anatoly Karpow, bedächtig und besonnen, spielte seinem Naturell entsprechend vorzugsweise reflektiertes Schach. Beide waren Meister für sich, doch ihre Stile komplett verschieden. Die besten Schachspieler rechnen nicht nur, sie erfühlen Stellungen.

Freestyle-Turnier an der Ostsee

Doch das besondere Gefühl der Schachgroßmeister droht von der Technik unterwandert zu werden. Weil sich die Spieler in ihrer Vorbereitung immer stärker von Schachsoftwares unterstützen lassen, gelten bestimmte Eröffnungspfade inzwischen als ausgetreten. Die Wahrscheinlichkeit auf ein Remis in solchen Varianten ist sehr hoch. Es mehren sich die Stimmen, die sich eine Veränderung wünschen. Daher könnte sich in den kommenden Jahren eine in der Szene bereits beliebte, aber noch nicht überall bekannte Schachvariante etablieren. Beim sogenannten Fischerschach, benannt nach dem US-amerikanischen Schachweltmeister Bobby Fischer, werden die Figuren auf der Grundreihe vor einer Partie zufällig umgestellt. Da 960 unterschiedliche Ausgangsstellungen möglich sind, nennt man es auch Schach-960. Vom 09. bis 16. Februar findet in Weissenhaus an der Ostsee ein solches Schach-960 Turnier statt, gelabelt unter dem Namen „Freestyle Chess G.O.A.T. Challenge“. Zum Teilnehmerfeld gehören neben Carlsen und Keymer auch der Weltmeister Ding Liren. Großartige Eröffnungskenntnisse helfen einem dort nicht. Vielmehr sind die Spieler auf ihr Gefühl angewiesen.

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