Über ein Gedicht des Poeten O. aus B.

Instant-Körner Hermeneuten in der "Zwiebel"

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Ich mag Kaffee, ich mag Gedichte, und ich mag es, beim Kaffee Gedichte zu lesen. Der Dichter H.O. aus B., der seinen Lebensunterhalt tagsüber als Creative Director einer Werbeagentur verdient, schreibt seine Gedichte nachts und braucht viel Kaffee, um die passenden Bilder, Rhythmen und ( gelegentlich) Reime zu finden.

Neulich las er neue Gedichte in der Stadtbücherei von S., darunter dieses:

Maxwell*

Der Mann, der morgens Kaffee macht.
Der sein Glas aufschraubt und zu den
Instant-Körnern sagt:

Jungs, es wird ein heißer Tag heute.
Einige von euch werden nicht
zurückkommen.

So könnte eigentlich ein guter
Amoklauf beginnen.


Der Mann, der morgens Kaffee macht.
Der sein Glas zuschraubt und zu den
Instant-Körnern sagt:

Ruhig, Jungs.
Ihr kommt auch noch dran.
Einer nach dem andern.

B., die keine Gedichte mag, äußerte später in der „Zwiebel“ ihr Missfallen über dieses Gedicht: Es habe zwar einigen Witz und sei handwerklich gut gemacht, sei aber in seiner Aussage ebenso trivial wie sein Gegenstand. Löslicher Kaffee sei eben kein Thema für ein gutes Gedicht, allenfalls für einen Dichter der Spitzenklasse. Zu der gehöre der gute H.O. nun mal nicht.

N. widersprach ihr energisch. „Maxwell“, behauptete er, „ist mehr als Handwerk, es ist Kunst, denn es gelingt ihm, einen alltäglichen Vorgang so zu beschreiben, dass wir in ihm unsere Gegenwart erkennen. Maxwell handelt von unserer Einsamkeit, von unserer Suche nach Glück in industriell gefertigten Suchtmitteln und nicht zuletzt von unserer Bereitschaft zur Gewalt. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage: Maxwell ist eine Parabel auf die Krise menschlicher Existenz im globalisierten Kapitalismus zu Beginn des 21.Jahrhunderts.“

N. schaute uns süffisant an und griff demonstrativ zum Bierglas

„Moment“, sagte ich, „steile These, und Kapitalismuskritik kommt immer gut. Aber wo findest du die im Text? Ich lese da nur was von einem Mann, der zu seinen Kaffeekörnern redet.“

N. war amüsiert. „Lies mal die beiden Verse, die die Achse des Textes sind. Hier schaltet sich der Sprecher im Gedicht ein, unterbricht die Beschreibung der morgendlichen Kaffeeroutine und lenkt die Perzeption des Lesers, indem er die Worte des Mannes in einen neuen Kontext stellt: „Amoklauf“ ist der Schlüsselbegriff, den er durch das paradoxe Attribut „guter“ besonders hervorhebt. Der Begriff assoziiert sinnlose Gewalt eines gestörten Täters gegen Menschen, die er eher zufällig zu seinen Opfern macht. Und die kapitalismuskritische Absicht ergibt sich aus dem Kontext, in dem das Gedicht entstanden ist: unserer Gegenwart, in der die strukturelle Gewalt des herrschenden politisch-ökonomischen Machtsystems die Menschen deformiert. Der idealtypische Mann im Gedicht sublimiert seine Gewaltbereitschaft, indem er sie gegen die Kaffeekörner der Marke Maxwell richtet. Unser H.O. hat seine Botschaft raffiniert chiffriert, aber für den kundigen Hermeneuten liegt sie offen zu Tage.“

B. winkte resigniert ab. Ich fragte den Mann hinter der Theke, was er von N.‘s Lesart halte. Aber der traute sich kein Urteil zu, Gedichte habe er schon in der Schule nicht gekonnt, und fragte, ob wir nicht Lust auf einen Latte Macchiato hätten. Der übertreffe jeden Körnerkaffee um Längen.

Der Vorschlag war clever, und so beendeten wir unseren Disput über Maxwell von H.O. aus B. mit einem Kaffee von gerösteten Bohnen mit viel, viel Milch.

Erst später zuhause fiel mir ein, dass N. mit seinem wachen kritischen Bewusstsein nichts gegen den Genuss eines Getränks einzuwenden hatte, das „als Symbol und begleitendes Getränk von Gentrifizierungsprozessen“ ( Wikipedia ) gilt.

Soviel zu den Tücken moderner Gedichte und unseres progressiven Alltags.

* aus: Hellmuth Opitz, Die Dunkelheit knistert wie Kandis. Bielefeld 2011

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Geschrieben von

koslowski

"In Saloniki / weiß ich einen, der mich liest, / und in Bad Nauheim./Das sind schon zwei." (Günter Eich, Zuversicht)

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