Am Dienstag, dem 19. Juli 2022 verkündet die Gewerkschaft Verdi nach über elf Wochen Streik die Zustimmung der Tarifkommission zu einem Tarifvertrag zur Entlastung des Personals an den sechs Universitätskliniken in NRW. Dieser Tarifvertrag ist nicht nur ein weiterer Meilenstein für die Entwicklung der gewerkschaftlichen Kämpfe in den Krankenhäusern, weil hier das erste Mal ein Abschluss für einen sogenannten Tarifvertrag Entlastung (TVE) in einem Flächentarifvertrag für sechs Unikliniken zugleich gelungen ist. Die in dem Tarifvertrag gemachten Kompromisse zeigen zusammen mit weiteren krankenhauspolitischen Entwicklungen der letzten Wochen auch die Konfliktlinien für die politischen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre an.
Mit dem TVE will Verdi an den Krankenhäusern die Arbeitsbelastung für die Beschäftigten senken. Hierfür werden konkrete Kennzahlen vereinbart, wie viel Arbeit den Beschäftigten von den Kliniken zugemutet werden kann. Werden diese Werte überschritten, bekommen die Beschäftigten sogenannte Entlastungspunkte, die in freie Tage umgewandelt werden können. Für die Beschäftigten ist dies eine Kompensation für die belastende Arbeit. Für die Kliniken stellen die freien Tage eine Sanktion dar, die den Anreiz schaffen soll, belastende Situationen zukünftig zu vermeiden – durch mehr Personal, oder weniger Arbeit. In der Pflege – die in diesen Auseinandersetzungen meist im Fokus der Öffentlichkeit steht – werden diese Belastungskennziffern anhand von Pflege-Patient*innen-Verhältnissen erfasst. Eine Pflegekraft darf nur für eine bestimmte Anzahl von Patient*innen zuständig sein. Verdi hatte für die sechs Unikliniken die Forderung jedoch nicht nur für die Pflegebereiche aufgestellt, sondern auch für andere Bereiche im Krankenhaus, wie die Speiseversorgung oder den Transportdienst.
Schwerer Kompromiss für Verdi
Die improvisierte Pressekonferenz, auf der die Landesfachbereichsleiterin von Verdi Katharina Wesenick zusammen mit den streikenden Kolleg*innen das Ergebnis vorstellte, war geprägt von der Freude über den Abschluss und zugleich einer spürbaren Wut, über die Kompromisse, die Verdi machen musste. Denn diese sind in der Finanzierungslogik der Krankenhäuser angelegt und verweisen damit auf grundsätzliche Probleme.
Durch die Finanzierung nach Fallpauschalen erhalten die Krankenhäuser nicht die realen Kosten erstattet, die ihnen entstehen, sondern nur einen fixen Preis pro Behandlung. Dies schafft einen beständigen Anreiz, Kosten durch Personalabbau zu senken und die Erlöse durch mehr und lukrative Behandlungen zu steigern. Der Pflegenotstand ist ein Produkt dieser Politik. Im Jahr 2018 hatte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn bereits auf die Proteste in den Krankenhäusern mit einer Reform der Krankenhausfinanzierung reagiert. Mit der Reform wurde ein bestimmter Teil der Pflege – die sogenannte „Pflege am Bett“ – aus den Fallpauschalen herausgelöst und wird nun über ein extra „Pflegebudget“ finanziert. Für die Pflegekräfte in den bettenführenden Bereichen bekommen die Krankenhäuser seitdem die tatsächlichen Kosten erstattet, die sie für das Pflegepersonal ausgeben.
Diese Herauslösung eines Teils der Pflege aus dem finanziellen Schraubstock der Fallpauschalen ermöglichte für Verdi seit 2018 den Abschluss von zahlreichen Tarifverträgen Entlastung unter anderen in den Unikliniken in Jena, Mainz, Augsburg und zuletzt an den Berliner Kliniken Charité und Vivantes. Zugleich wurde mit dieser Reform jedoch die Belegschaft der Krankenhäuser gespalten. Denn während die Pflegekräfte in den bettenführenden Bereichen jetzt nicht mehr unter dem finanziellen Druck der Fallpauschalen stehen, gilt dieser weiterhin zum Beispiel für die Pflegekräfte in den Operationssälen oder der Anästhesie. Aber auch alle anderen Berufsgruppen stehen weiter unter dem finanziellen Druck des Fallpauschalensystems.
Diesen Druck konnte Verdi auch nach über elf Wochen Streik nicht vollständig überwinden. Dies findet seinen Ausdruck in dem Tarifabschluss: Verdi konnte die Spaltung für den Großteil der Pflege, aber auch zum Beispiel für die Hebammen verhindern. Für diese gelten nun ebenso wie für die „Pflege am Bett“ Personal-Patient*innen-Schlüssel, obwohl hier kein zusätzliches Geld von den Krankenkassen fließen wird. Der Gesundheitsminister von NRW, Karl Josef Laumann, hat bereits angekündigt, dass das Land hier in die Bresche springen wird. Dafür hatte Verdi Druck gemacht.
Insbesondere für die Bereiche, die nicht in der unmittelbaren Patient*innenversorgung tätig sind, wie Einkauf, IT, Technik oder Transportdienst, aber auch bei den Ambulanzen blieben die Unikliniken jedoch auch nach elf Wochen Streik unnachgiebig. Sie werden zwar in den Geltungsbereich des Tarifvertrags aufgenommen. Jedoch werden pro Klinik nur 30 zusätzliche Kräfte eingestellt, um hier Personal aufzustocken. Verdi macht keinen Hehl daraus, dass das angesichts der Fülle der Bereiche lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Folgerichtig geriet die Pressekonferenz zur Vorstellung der Verhandlungsergebnisse zwischenzeitlich zu einem Tribunal gegen die „kapitalistische Logik“ des Fallpauschalensystems und die politisch bewusst erzeugte Spaltung der Belegschaft.
Das doppelte Spiel des Karl Lauterbach
Der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wird diese Töne eher ungern hören. Er hatte sich im Laufe der Auseinandersetzung in NRW immer wieder positiv auf den Tarifkonflikt bezogen. Zuletzt kündigte er sogar an, sich bei der geplanten Einführung einer gesetzlichen Personalbemessung an den Regelungen in den Tarifverträgen für Entlastung zu orientieren. Was der Bundesminister jedoch darüber hinaus für die Krankenhäuser plant, widerspricht der Forderung der Kolleg*innen nach Abschaffung der DRGs fundamental. Dies betrifft zum einen die bereits aus den Fallpauschalen herausgelösten Teile der „Pflege am Bett“. Statt der Forderung nachzukommen, weitere Bereiche und Berufsgruppen aus den Fallpauschalen herauszunehmen, soll laut einem aktuellen Gesetzentwurf zum sogenannten GKV-Finanzstabilisierungsgesetz die Definition noch enger gefasst werden, welche Beschäftigten zukünftig aus dem Pflegebudget finanziert werden können. Hintergrund dieser Regelung ist ein anhaltender Streit zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern, welche Beschäftigte aus dem Pflegebudget zu finanzieren sind, oder anders formuliert: wie die gesetzlich verordneten Spaltungslinien verlaufen. Statt dies zum Anlass zu nehmen, die Spaltung zu überwinden, indem alle Beschäftigten aus dem Druck der Fallpauschalen befreit werden, soll nun der Kreis der Beschäftigten immer enger gefasst werden, für die dieser Druck nicht gilt. Das Fallpauschalensystem mit seinen Spaltungen wird dadurch wieder gestärkt.
Darüber hinaus hatte sich die Ampel-Koalition vorgenommen, für die Bereiche Pädiatrie, Notfallversorgung und Geburtshilfe die Finanzierung auf eine neue Grundlage zu stellen. Für die Pädiatrie hatte die SPD zuvor die Abschaffung der DRGs sogar per Parteivorstandsbeschluss gefordert. Zur Umsetzung des Koalitionsvorhabens hat Lauterbach eine Kommission eingesetzt, die nun erste Vorschläge vorgelegt hat. Die Notfallversorgung ist dabei komplett unter den Tisch gefallen. Auch für die anderen beiden Bereiche werden zwar die Probleme korrekt beschrieben, zu deren Lösung sind jedoch lediglich Ergänzungen des Fallpauschalensystems vorgesehen. Eine Umstellung der Finanzierung auf ein System, das die realen Kosten refinanziert, ist nicht angedacht. Die Diskrepanz zwischen der Problembeschreibung und den unzureichenden Lösungsvorschlägen sticht dabei ins Auge.
Die von den streikenden Kolleg*innen geforderte Abschaffung der Fallpauschalen ist also weiter nicht auf der Agenda der offiziellen Gesundheitspolitik. Schlimmer noch: Die bereits von einem CDU-Gesundheitsminister umgesetzte Schwächung der Fallpauschalen soll partiell rückgängig gemacht, die Spaltung der Belegschaften weiter aufrechterhalten werden. Die Gewerkschaft Verdi muss also in ihren Tarifkämpfen weiter die Einheit der Belegschaften gegen die gesetzlich verordnete Spaltung verteidigen. Dies wird jedoch nur gelingen, wenn die Kämpfe um Entlastung verbunden werden mit der politischen Forderung nach Abschaffung der Fallpauschalen. Denn solange Teile der Belegschaft im finanziellen Schraubstock der Fallpauschalen verbleiben, trägt die Politik eine direkte Verantwortung für die Härte der Auseinandersetzungen, die mit elf Wochen Streik an allen Unikliniken von NRW neue Ausmaße erreicht hat. Für die Gewerkschaft geht damit auch immer ein Risiko einher. Stellt sie weiterhin Forderungen für die gesamte Belegschaft auf, riskiert sie auch weiterhin von der erbarmungslosen Logik der Krankenhausfinanzierung auch nach harten Auseinandersetzungen zu schmerzhaften Kompromissen gezwungen zu werden. Diesen Spagat aushalten zu können, erfordert eine beständige demokratische Debatte unter den Streikenden, damit der Spaltungsdruck von außen sich nicht in eine Spaltung innerhalb der Gewerkschaft übersetzt. Auch in diesem Sinne hat die basisdemokratische Verhandlungsführung der letzten Wochen innerhalb der Gewerkschaften neue Maßstäbe gesetzt.
Unterdessen deuteten sich in der Presskonferenz weitere Auseinandersetzungen auch in anderen Bundesländern an. Wie schon zuvor die Kolleg*innen aus Berlin den Staffelstab an NRW weiter gegeben hatten, kündigten die Streikenden in NRW nun an, in der nächsten Zeit durch die Republik zu reisen, um andere Kliniken zur Aufnahme der Auseinandersetzung zu motivieren.
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