Frage an den Sender Jerewan: „Kann man eigentlich gleichzeitig Kommunist und Christ sein?“ Antwort: „Im Prinzip ja, aber warum sich das Leben doppelt schwer machen.“ So ähnlich wie bei diesem DDR-Witz hätte sich am 6. März 1978 auch das Gespräch zwischen der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR mit dem Vorsitzenden des Staatsrates annotieren lassen: Warum sich das Leben unnötig schwer machen? Bis dahin galt Religion im marxistischen Denken als falsches Bewusstsein, und die Kirche war die Institution, die dieses falsche Bewusstsein bewahrte und zu verbreiten suchte. Sie galt als nicht überwundener Restbestand der bürgerlichen Gesellschaft.
Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 waren sich indes nicht nur die beiden deutschen Staaten nähergekommen, sondern auch Staat und Kirche in der DDR (konkret: die evangelische; die erheblich kleinere katholische Kirche verhielt sich immer politisch abstinent). Mit dem Treffen Anfang März 1978 akzeptierte die SED offiziell die Existenz der Kirchen, im Gegenzug gab die Kirche die geforderte Loyalitätserklärung zum Staat DDR ab.
Seit der organisatorischen Trennung von der westdeutschen EKD und der Gründung eines eigenen DDR-Kirchenbundes im Jahr 1969 sprachen Bischöfe und Kirchenräte öffentlich von einer „Kirche im Sozialismus“. Nicht Kirche neben, nicht gegen, sondern in der sozialistischen Gesellschaft wollte man sein. Das Problem dabei: Wenn schon der Sozialismus-Begriff, wie er in der DDR benutzt wurde, die Wirklichkeit nur ideologisch verzerrt wiedergab, so barg auch die Formel von der „Kirche im Sozialismus“ die Gefahr eines Realitätsverlustes. Und zur Wirklichkeit der Kirchen in der DDR gehörte eben auch ihre Geschichte. Noch als FDJ-Chef hatte Erich Honecker gegen die Junge Gemeinde gekämpft. Circa 3.000 christliche Schüler und 2.000 Studenten waren 1952/53 relegiert worden, hatten ihren Schul- oder Studienplatz verloren. Etwa 70 Theologen und Jugendleiter wurden verhaftet, sogar Schauprozesse gab es. Als Staats- und Parteichef schlug Honecker gänzlich andere Töne an.
Als hätte es im DDR-Bildungssystem nie eine Benachteiligung für Kinder aus christlichem Elternhaus gegeben, erklärte er an jenem 6. März: „Unsere Republik gibt jedem Bürger eine klare Perspektive und die Möglichkeit, unabhängig von Alter und Geschlecht, Weltanschauung und religiösem Bekenntnis, seine Fähigkeiten und Talente, seine Persönlichkeit voll zu entfalten.“ Den Vertretern der Kirche ging es vor allem darum, zitierfähige Äußerungen Honeckers zu erhalten, mit denen die Pfarrer vor Ort gegenüber Bürgermeistern argumentieren konnten. Seit dem Treffen mit DDR-Ministerpräsident Grotewohl im Jahr 1958 war kein Staat-Kirche-Gespräch auf höchster Ebene mehr zustande gekommen – ein Treffen mit dem Staatsoberhaupt und Parteichef noch nie.
Insofern war die jetzige Begegnung eine Sensation, die freilich erst einen Tag später publik wurde. Manfred Stolpe, damals Generalsekretär des DDR-Kirchenbundes, wies den Vorwurf der Geheimnistuerei immer zurück. Die Verhandlungsgruppe habe von der Synode das Mandat erhalten. Zudem habe man befürchten müssen, „dass der Staat seine Gesprächsbereitschaft bei der zu erwartenden Reaktion der Westmedien zurückgenommen hätte“. Der Kirchenhistoriker Martin Onnasch erinnerte sich viele Jahre später, er sei von dem Treffen regelrecht überrascht worden – bei der morgendlichen Lektüre des Neuen Deutschland. Der Inhalt des Gespräches mit der Zusage erweiterter Tätigkeitsfelder für die Kirchen in bisher schwer zugänglichen und verschlossenen Einrichtungen habe ihn irritiert, wie auch die Aussage des Kirchenbundvorsitzenden Albrecht Schönherr, das Verhältnis von Staat und Kirche sei so gut, wie es jeder christliche Bürger vor Ort erfahre. Zur Irritation beigetragen habe aber vor allem der Umstand, dass im ND auf der Titelseite berichtet wurde. „Das hieß nach den Regeln des informatorischen Protokolls in der DDR: Dieser Vorgang besaß große Bedeutung für die gesamte Politik nach innen und außen.“
Die DDR hatte sich verändert. Der Sozialismus war eine Alltagserscheinung, kein Provisorium mehr und auch kein Bollwerk im Kampf gegen den Weltimperialismus. Der Sozialismus war ein Versorgungsversprechen zum Preis eingeschränkter individueller Freiheit. Etwas, das die meisten als unabänderlich hinnahmen, womit man sich zu arrangieren hatte. Die wenigsten Menschen aber glaubten an den Sozialismus. Den Glauben de jure und den Glauben de facto gab es auch in der Kirche, deren Gemeinden in den 1950er Jahren auf weniger als die Hälfte ihrer Mitglieder geschrumpft waren. Klaus Gysi, Vater des Linken-Politikers Gregor Gysi und viele Jahre Staatssekretär für Kirchenfragen, scherzte einmal gegenüber dem Ostberliner Generalsuperintendenten Günter Krusche: „Die wahren Marxisten und die überzeugten Christen sind doch nur eine Minderheit.“
Ein Faktum aber blieb: Auf nicht absehbare Zeit würde es in der DDR christliche Kirchen geben. Sie waren der einzige Bereich, der sich dem übermächtigen Kontrollanspruch der SED entzog. Und eine Kirche, die permanent bekämpft wurde, bis sie nichts mehr hatte – diese Kirche hatte auch nichts mehr zu verlieren: Der Schrecken um die öffentliche Selbstverbrennung des Zeitzer Pfarrers Oskar Brüsewitz im Spätsommer 1976 wird vielen Genossen noch schwer in den Gliedern gesteckt haben.
In der Ära Honecker war der Apparat immer darauf bedacht, den Westmedien „keine Angriffsfläche“ zu bieten; die DDR-Volkswirtschaft war von westlichen Krediten abhängig, deren Vergabe an menschenrechtliche Mindeststandards gekoppelt war. In der Regel verlief die Auseinandersetzung mit Oppositionellen so, dass Westjournalisten davon nichts bemerkten. Erich Mielke schrieb im April 1978 an die Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit von einem „Differenzierungsprozess in den Kirchen“. Durch qualifizierte politisch-operative Arbeit sei zu gewährleisten, dass dort „die realistisch denkenden Kräfte noch stärker an die humanistische Politik unserer Partei herangeführt, die Schwankenden gefestigt und feindlich negative Personen bzw. Gruppen gespalten, zersetzt und paralysiert werden“.
Die EKD im Westen, die ihre ehemaligen Gliedkirchen in der DDR auch weiterhin kofinanzierte, enthielt sich damals jeglichen Kommentars. Zum Treffen im DDR-Staatsrat hatte man noch einmal 80 Millionen DM bereitgestellt, um eine Aufnahme der Pfarrer in die staatliche Rentenversicherung zu erwirken. Der EKD-Beauftragte Uwe Peter Heidingsfeld ließ seinen kircheninternen Bericht mit dem Satz ausklingen: „Insgesamt gilt, das Essen ist noch allemal die Probe auf den Pudding.“ Und so war es dann auch.
Für die Kirchen in der DDR oder – wie es der Schweizer Theologe Karl Barth formuliert hatte – in „Gottes geliebter Ostzone“ begann mit dem 6. März 1978 eine spannende Entwicklung. Obwohl die Zahl der Gläubigen weiter schrumpfte, sollte das Gewicht der Kirchen in der Gesellschaft mit jedem Jahr zunehmen – ein einmaliger Vorgang in der langen Geschichte des deutschen Protestantismus. In keinem anderen Land des Ostblocks – mit Ausnahme Polens – war die Kirche ein derart politischer und gesellschaftsrelevanter Faktor.
Wolfgang Rüddenklau, Pastorensohn, Anarchist und die zentrale Figur der Umweltbibliothek in der Ostberliner Zionskirchgemeinde, erinnerte sich lange nach dem Ende der DDR: „Es gab in den 1980er Jahren zunehmend ein paar Freiräume, die unter anderem daher kamen, dass die evangelische Kirche mit der SED einen Vertrag gemacht hatte, der innerkirchliche Druckerlaubnis, Veranstaltungsfreiheit und dergleichen sicherte – sozusagen die einzige unabhängige Institution innerhalb dieses Staates und selbst für Ostblockverhältnisse eigentlich einmalig.“ Dieser Vertrag trug als Datum den 6. März 1978.
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