1995: Jede Menge Kunst

Zeitgeschichte Vor 20 Jahren wird in Berlin der Reichstag durch die Künstler Christo und Jeanne-Claude verhüllt. Die Geschichte verschwindet unter dem Mantel eines gnädigen Vergessens
Ausgabe 24/2015
Verhängt war der Reichstag erst recht eine Offenbarung
Verhängt war der Reichstag erst recht eine Offenbarung

Foto: Detlev Konnerth/Imago

Mag sein, dass der „wrapped Reichstag“ ein historisches Ereignis war, über dessen Substanz man bis heute unterschiedlicher Meinung sein kann. Im Rückblick erscheint der Zeitraum des Geschehens als recht beliebig. Die Verhüllung des damals noch parlamentsfreien Gebäudes im Juni 1995 war nicht nur ein Projekt von Christo und Jeanne-Claude, sondern vor allem ein Prozess. Seit 1971 hatte das Künstlerehepaar Bettelbriefe geschrieben, Politikern aufgelauert und fortwährend neue Konzepte verfasst, in denen stets die Schönheit eines mit Kunststoff verhängten Gemäuers gepriesen wurde. Bis sich dann endlich im Februar 1994 der Bonner Bundestag in einer nicht sonderlich überwältigenden Mehrheit von 292 zu 223 Stimmen für das Vorhaben entschied – gegen das ausdrückliche Votum des damaligen Kanzlers Helmut Kohl.

Und so geschah es: Vom 17. Juni 1995 an war der Reichstag zwei Wochen lang verpackt mit über 100.000 Quadratmetern feuerfestem Polypropylen. Der Kunststoff brachte es auf ein Gewicht von 61.500 Kilogramm, das auf 70 Paneelen (großflächige Verkleidungsplatten) herabgelassen und mit 15,6 Kilometer Seilen verschnürt wurde. Im Wochenblatt Die Zeit bejubelte Petra Kipphoff eine beeindruckende Präzisionsarbeit, „besonders an den Ecktürmen, wo das Material teils zwischen, teils über die Metallkäfige fallen muss“. Fünf Kletterer hätten an zwei Seilen gehangen, seien hin- und hergependelt und wären immer wieder in den Falten verschwunden. „Manchmal ging alles rasch, der silberne Vorhang fiel makellos und majestätisch, die Männer in den Seilen hinterher, sprangen auf den Boden, purzelten übereinander, die Zuschauer applaudierten.“

Was für ein Erlebnis! Allein am letzten Tag des Spektakels sollen eine halbe Million Besucher die Verpackung und Verschnürung betrachtet haben – fünf Millionen waren es insgesamt. Also ein richtiger, ein Mega-Erfolg für den Tourismus-, den Wirtschafts- und Kulturstandort Berlin. Die Stadt war in aller Munde, weltweit! Bis heute gilt die Reichstagsverhüllung als das bekannteste Werk einer Kunst im öffentlichen Raum. Christo und Jeanne-Claude hatten bis dato schon die Pariser Pont Neuf verhängt, in Australien gar einen ganzen Küstenstreifen. Und dennoch: Ein bisschen wohlfeil war dieses Kunstprodukt schon. Christo und Jeanne-Claude haben mit dem Reichstag auch dessen zwielichtige historische Bedeutung verpackt und damit beigetragen zur Trivialisierung deutscher Geschichte nach 1989. Auf den „wrapped Reichstag“ konnte sich jeder, wie er wollte, seinen Reim machen. Gekostet hat die Aktion auch nichts, jedenfalls nicht den Steuerzahler. Wir wissen: Moderne Kunst darf nicht billig sein, aber sie darf auch nichts kosten. Angeblich hat sich das 13-Millionen-Dollar-Projekt selbst finanziert durch den Verkauf der original Christo-Modelle, -Skizzen, -Collagen und so weiter.

Warum nicht mal was verpacken?

Der Bundestag hatte im Reichstag schon vor der Wiedervereinigung das Hausrecht, freilich durfte er in Berlin-West seit dem Viermächte-Abkommen von 1971 allenfalls Fraktions- und Ausschusssitzungen abhalten. Nun aber wurde 1994/95 durch die Medien suggeriert, erst der Mauerfall habe das besagte Kunsthappening möglich gemacht. Nahe der Ostfassade verlief ja ursprünglich die Grenze zur DDR, und die habe man nicht unnötig provozieren wollen. Tatsächlich? Aber warum hat dann ein André Heller am gleichen Ort 1984 sein „Feuertheater mit Klangwolke“ abhalten dürfen? Für den Wiener Aktionskünstler war das damals ein „Rufzeichen des Fantastischen“, für das er immerhin 200.000 Eintrittsbuttons verkaufte. Die Polizei sprach sogar von einer halben Million Schaulustiger! Und was war mit den Rockkonzerten, die in der zweiten Hälfte der 80er Jahre vor dem Reichstag stattfanden? Genesis, Eurythmics und Michael Jackson. Pfingsten 1987 hatte David Bowie dort gesungen: „Ich / Ich glaub das zu träumen / Die Mauer im Rücken war kalt / Schüsse reißen die Luft … / Dann sind wir Helden /Nur diesen Tag.“ War das keine Provokation?

Das eingemauerte Westberlin, die Insel der Kaputten und Kreativen, ist heute eine Legende. Die „selbstständige politische Einheit“, wie sie von der DDR genannt wurde, galt immer als Schaufenster des Westens. Und jedes Schaufenster will hin und wieder umdekoriert sein. Warum nicht mal was verpacken? Christo und Jeanne-Claude am Reichstag – nach David Bowie wäre das nur konsequent gewesen. In diesen Jahren dachte noch keiner daran, dass hier schon bald wieder ein ganzes Parlament einziehen würde, ausgenommen natürlich Helmut Kohl.

Der Tiergarten und die Straße des 17. Juni waren schon in den 80ern als temporärer Partysperrbezirk berühmt. Weshalb also wurde der Reichstag nicht damals verhüllt? Christo und Jeanne-Claude hätten nur eine andere Begründung konstruieren müssen. Irgendwas mit Freiheit der Kunst, Gorbatschow und Eisernem Vorhang. Christo wäre als Prophet ins kollektive Gedächtnis eingegangen, niemand käme heute mehr auf die Idee, David Hasselhoff hätte mit Looking for freedom! die Mauer eingerissen.

Grauschleier über der Erinnerungslandschaft

Vielleicht – aber das ist nur eine These, die der Autor nicht belegen kann – hatte die Bonner Politik einfach kein Interesse daran, dem anderen deutschen Staat eine propagandistische Steilvorlage zu liefern. In Ostberlin wäre im Fernsehzentrum Adlershof eine Person zur Höchstform aufgelaufen: Karl-Eduard von Schnitzler mit seinem Schwarzen Kanal, ein begnadeter Propagandist und Polemiker: „Da haben sich die Scharfmacher in Bonn aber etwas Feines ausgedacht. Unter dem Mantel der freien Künste wird hier an der Grenze zur DDR, am antifaschistischen Schutzwall …“ Am Reichstag werde kostspielig verpackt und wieder abgerissen. Warum, erschließe sich niemandem, doch bleibe es beim unumstößlichen Faktum, dass auf der anderen Seite – der des ersten sozialistischen Staates der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden – sehr viel Sinnvolles gebaut werde, zum Beispiel Wohnungen für die Werktätigen. „Und übrigens“ – und jetzt wäre es interessant geworden – „die äußere Gestalt des Gebäudes wurde in der Geschichte schon einmal schwer verändert.“ Karl-Eduard von Schnitzler hätte den Elfmeter verwandelt, er hätte genüsslich an den Reichstagsbrand und Hindenburgs Reichstagsbrandverordnung („Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“) vom 28. Februar 1933 erinnert, die das Ende der Weimarer Demokratie besiegelt habe. Eben jener Reichspräsident, der bis heute Ehrenbürger Berlins ist, wozu ihn der damalige Magistrat erhob, nachdem er Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hattte.

Die Grünen in Westberlin, während der 80er Jahre deutlich linker als heute, hätten den Ball aufgenommen, so dass die ganze Debatte womöglich eine völlig andere Richtung bekommen hätte. Schade eigentlich. Die Historiker aber kennen keinen Konjunktiv. Das Wort Geschichte kommt von geschehen.

Und die Geschichte der Deutschen wird seit den 90er Jahren neu erzählt, unter anderem durch Guido Knopp und Heinrich August Winkler. Über weiten Teilen der Erinnerungslandschaft hängt heute ein Grauschleier, der an Christos und Jeanne-Claudes 61.500 Kilogramm Kunststoff erinnert. Der erlaubte eine wundersame Verwandlung. Wie im Märchen: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam die deutsche Nation vom rechten Wege ab, um dafür nach 1945 Buße zu tun, weil sie geteilt war. Am Ende jedoch wurde alles gut, gab es die Erlösung: die Wiedervereinigung.

Kunstprojekte wie das von Christo oder Konzerte fanden seither keine mehr am Reichstag statt. Doch wer weiß? Im Jahr 2033 erlebt das Gebäude sein nächstes großes Jubiläum. Irgendeine Künstlergruppe wird sich schon finden, die Marinus van der Lubbe ehren will. Draußen auf der Wiese wird ein Denkmal aufgestellt: ein riesiges Streichholz, innen hohl und für jedermann begehbar.

Karsten Krampitz schrieb auf dieser Seite zuletzt über Dietrich Bonhoeffer

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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