Einen Termin beim Magdeburger Altbischof Werner Krusche zu bekommen, war nicht leicht. Drei Jahre liegt unser Gespräch nun zurück, für das es eines Fürsprechers aus dem Magdeburger Konsistorium bedurft hatte. Ich wollte mit ihm über Oskar Brüsewitz sprechen, dem Pfarrer, der sich verbrannt hatte, und über den ich ein Buch schreiben wollte. Jemand hatte ihm versichert, dass es sich bei dem Brüsewitz-Buch, das ich publizieren wollte, um ein seriöses Projekt handelte.
Dass auch der greise Krusche ein „harter Knochen“ war, hatte ich von einigen Kirchenleuten schon gehört, und bereits die Begrüßung an der Wohnungstür ließ einiges erwarten, entsprach doch seine Gestik so gar nicht seinem „Herzlich Willkommen!“ Vergeblich streckte ich ihm meine Hand entgegen. Auch gut, dachte ich. Muss ich ihm wenigstens nicht erklären, warum sie verkrüppelt ist.
Er bleibe einer, der hier eine Frage mitnehme, sagte er im folgenden Gespräch: „Musste es denn diese letzte Tat sein?“ Oskar Brüsewitz sei für ihn ein Bruder in Christus, aber kein Märtyrer. Denn ein solcher könne nur sein, wer durch andere zu Tode gebracht worden ist. In dem Moment brachte seine Frau Kaffee und Kuchen herein, und während ich mich mit der Kuchengabel mühte, sah ich, dass auch mein Gegenüber sich mit ähnlichen Problemen plagte. An jeder Hand fehlten drei Finger. „Was ist denn passiert?“, wollte ich wissen. – „Krieg. Und bei Ihnen?“ – „Frieden.“
In Anbetracht dieser Vertrauen erweckenden körperlichen Gemeinsamkeit und des Umstands, dass da noch ein Pfarrer mit am Tisch saß, den wir beide sehr gut kannten und schätzten, fasste ich den Mut und stellte ihm die Frage, die ihm in all den Jahren wieder und wieder gestellt worden war, und von der es hieß, dass er sie nicht mehr beantworten werde: Warum in Herrgottes Namen hatte er am 18. August 1976 seine Dienstreise in Tansania nicht abgebrochen?
Später dann, das Aufnahmegerät aus war
Der 18. August 1976 war der Tag, an dem sich Oskar Brüsewitz, einer der Pastoren seiner Landeskirche, in Zeitz mit Benzin übergoss und anzündete. – Krusche sagte, er sei damals gar nicht auf die Idee gekommen, die Reise abzubrechen. In der Kirchenprovinz Sachsen gebe es einen Stellvertreter des Bischofs, der ihn in solchen Fällen wirklich voll vertrete. Und außerdem: „Im Regenwald, da kann man nicht jeden Tag wegfliegen. Selbst wenn, hätten wir auf die Schnelle nicht einmal das Geld für ein Ticket gehabt. Ich meine jetzt nicht DDR-Mark.“ Man habe doch immer die Westkirchen um Hilfe bitten müssen.
Wer alte Fragen stellt, bekommt die alten Antworten. Stunden später erst, längst war das Aufnahmegerät ausgestellt, gab Werner Krusche mehr von sich preis: „Junger Mann, Sie wissen schon, dass sich zwei meiner Söhne das Leben genommen haben? Und auch, dass meine erste Frau... “
Die Aufgabe, eine Art DDR-Kirchengeschichte zu schreiben, steht noch immer aus. Dem Theologen und langjährigen Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes Werner Krusche würde darin eine zentrale Bedeutung zukommen. Wohl gilt er nicht als der Erfinder der „Kirche im Sozialismus“, aber doch als deren Nestor. Jener Kirche, die nicht für und nicht gegen, aber im Sozialismus sein wollte. In der Magdeburger Landeskirche, zu der auch der damalige Erfurter Propst Heino Falcke gehörte, wurde dieser Formel Leben eingehaucht, wurde schon früh in Gesprächskreisen zwischen dem „wahren Sozialismus“ und dem „Realsozialismus“ unterschieden.
Die Handschrift des Bischofs
Unter westdeutschen Evangelikalen gilt Krusche bis heute als roter Bischof, der seinerzeit Brüsewitz’ Versetzung betrieben haben soll, was gar nicht möglich gewesen wäre – der Pastor hatte nicht gegen Kirchenrecht verstoßen. Für Honecker wiederum war Werner Krusche lange Zeit mehr oder weniger ein Staatsfeind. Im September ’76 hieß es in der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED: Zuerst sei die Magdeburger Landeskirche schockiert gewesen, dann habe sie laviert, „dann hat sie sich gegen uns gewandt“.
Der Brief an die Gemeinden der Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR, der den Flammentod des Oskar Brüsewitz thematisiert und sich ausdrücklich nicht von ihm als Bruder distanzierte, trägt Krusches Handschrift. Im September 1976 wurde dieses Papier DDR-weit von den Kanzeln verkündet; Honecker sah darin einen „der größten konterrevolutionären Akte gegen die DDR.“ Manchmal werden in Interviews die besten Antworten nicht autorisiert. Gab es denn gar keine Gegenstimmen unter den DDR-Bischöfen, als das Papier verabschiedet wurde? Der Altbischof grinste: „Es geht ja die Legende um, dass Albrecht Schönherr während der Abstimmung Pinkeln war.“
Werner Krusche starb am 24. Juni 2009 im Alter von 91 Jahren.
Der Schriftsteller Karsten Krampitz wurde 1969 in Rüdersdorf (Brandenburg) geborben. Mit seinem Roman Der Kaiser vom Knochenberg gelang ihm ein Bestseller. Sein letztes Buch, die Erzählung Heimgehen, verhalf ihm bei den diesjährigen Literaturtagen in Klagenfurt zum Publikumspreis. Krampitz ist ausgebildeter Germanist und Historiker.
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