Kein politischer Akt

DDR 1976 verbrannte sich der Pfarrer Oskar Brüsewitz öffentlich. Wer das Damalige kritisch betrachtet, muss Vorwürfe aushalten. Replik auf einen Deutschlandfunk-Beitrag
Eine genauere Aufarbeitung als durch das Denkmal in Zeitz täte not
Eine genauere Aufarbeitung als durch das Denkmal in Zeitz täte not

Foto: imago images / Steffen Schellhorn

Die Kirchenredaktion des Deutschlandfunks schickte unlängst einen Reporter nach Zeitz, jener Stadt im heutigen Sachsen-Anhalt, in der im Sommer 1976 ein Pfarrer den öffentlichen Feuertod suchte. Oskar Brüsewitz wäre dieser Tage 90 Jahre alt geworden. Und wie der Journalist Christoph Richter berichtet, steht im Zentrum der Stadt heute auf dem Kirchenvorplatz eine Sandstein-Säule, die genau jene Stelle markieren soll, an der sich der Pastor mit Benzin übergossen und öffentlich verbrannt habe und zwar: „Aus Protest gegen die Unterdrückung und Kriminalisierung von Christen in der DDR.“

Dass es nicht genau „jene Stelle“ ist, eben dort verläuft heute die Straße – geschenkt. Auch auf die angebliche „Unterdrückung und Kriminalisierung“ von Christen im Jahr 1976 soll hier nicht weiter eingegangen werden. Ein wenig Recherche zum Thema, und der Reporter wäre auf das Paradoxon gestoßen, dass die SED die Institution Kirche zwar bekämpft, aber gleichzeitig um die Christen geworben hat, „für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft“. Offenbar sind die Vorgänge an jenem 18. August 1976 einfach zu kompliziert als dass ein christliches Frühstücksradio darüber angemessen berichten könnte…

Ein NVA-Soldat hatte damals zu Protokoll geben, den Pfarrer noch gesehen zu haben, an jenem Mittwoch in Zeitz. An der roten Ampel sei das gewesen, gegen 10.15 Uhr. Aus dem Autofenster habe er Brüsewitz rufen hören: „Halle Julia!“ (sic!) Kurz darauf stellte der Pfarrer seinen Wartburg-Kombi vor der Fußgängerzone ab, direkt gegenüber der evangelischen Michaeliskirche. Was daraufhin geschah, beschrieb noch am selben Tag der CDU-Kreisvorsitzende Alfred Lautenschläger gegenüber der Volkspolizei: „Ich war zur Zeit des Vorfalls in unmittelbarer Nähe am Schuhhaus Teddy. Ich sah, wie diese Person (persönlich kenne ich ihn nicht) aus dem Auto ausstieg, bekleidet mit langem schwarzem Talar. Er öffnete die hintere Klappe des PKW-Kombi und ich sah, wie er Schilder herausnahm und diese auf dem Dach seines Autos befestigte. Danach nahm er eine Milchkanne aus dem Auto, hob diese auf und schüttete eine Flüssigkeit über sich. Im nächsten Moment stand er schon in Flammen. Ich ging, nachdem ich dieses gesehen hatte, sofort durch die Fischstraße zur Volkspolizei (VP), um schnellstens Hilfe zu holen. Mit zwei VP-Angehörigen ging ich sofort zum Ort des Geschehens zurück, um zu helfen. Ich machte diese auf die Transparente aufmerksam und beseitigte diese mit. Meines Erachtens können nicht viele dieses Transparent gelesen haben, da es nur kurze Zeit auf dem Auto stand und falsch zusammengestellt war.“ Der Pfarrer habe während der Handlungen keinerlei Äußerungen gemacht und seine Tat in „sagenhafter Schnelle“ ausgeführt.

Die Angaben des CDU-Politikers, dessen Kreisverband die Selbstverbrennung des Oskar Brüsewitz in den nächsten Tagen „aufs schärfste“ verurteilen sollte, decken sich im Wesentlichen mit den zu Protokoll gegebenen Aussagen anderer Zeugen. Binnen weniger Minuten hatten sich etwa dreihundert Menschen am Platz vor der Michaeliskirche versammelt. Ein Volkspolizist berichtete später: „Aufgetretene Diskussionen unter diesen Menschen waren in ihrem Inhalt gegen die Handlungsweise des Mannes gerichtet.“

Vowurf der SED-Propaganda

Anders als in CDU und SED sollte in der DDR-Kirche bis zum Herbst 1989 niemand den wörtlichen Inhalt der Plakate in Erfahrung bringen können. Noch am selben Tag war der Text „Funkspruch an alle… Funkspruch an alle… Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen“ vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle nach Berlin telegraphiert worden. Und vermutlich war dort, im SED-Politbüro, entschieden worden, die Losung auf keinen Fall publik zu machen.

Doch zurück zum Funkhaus Köln: Reporter Richter fragt an, warum sich in Zeitz heute so gar niemand mehr an Brüsewitz erinnern mag. Gegenfrage: War denn das Leben in der DDR wirklich so unerträglich, dass ein Pfarrer auf solche Weise dem lieben Gott seine Seele hinwerfen musste? – Selbst in der Erinnerungspolitik des Landes Sachsen-Anhalt spielt der Pfarrer aus Rippicha bei Zeitz keine Rolle. Birgit Neumann-Becker, Aufarbeitungsbeauftragte des Landes Sachsen-Anhalt und seit 2013 im Amt, hat zum Thema bislang weder eine Gedenkschrift herausgebracht noch eine Veranstaltung auf die Beine gestellt. Was die Theologin aber nicht davon abhielt, im besagten Radiobeitrag dem Autor dieser Zeilen vorzuwerfen, mit seiner Dissertation SED-Propaganda zu verbreiten (ein Mitarbeiter der Berliner Stasiunterlagenbehörde sekundierte ihr dabei). Starker Tobak, verbunden mit dem Hinweis, die Promotionsschrift sei auch noch im linken Verbrecher Verlag erschienen; finanziert im Übrigen durch Mittel der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands.

Vielleicht sollte Birgit Neumann-Becker einfach mal ihrer Arbeit nachgehen. Aufarbeitung heißt Aufklärung. Für ein Brüsewitz-Symposium mit wissenschaftlichem Anspruch braucht es keine Jahrestage, nur jemanden der die Tagung organisiert und finanziert. Und bei der Gelegenheit können dann auch ihre Vorwürfe diskutiert werden.

„Brüsewitz' Tod ist ihm genommen worden“

Der Hamburger Psychotherapeut und Theologe Christian Braune spricht in seiner fundierten Untersuchung Feuerzeichen. Warum Menschen sich anzünden davon, dass in der heutigen Bundesrepublik jährlich circa hundert Menschen versuchen, sich mit Feuer das Leben zu nehmen. Etwa dreißig Prozent dieser Menschen sterben an den schweren Verletzungen. Die Selbsttötung habe einen Sinn für den suizidalen Menschen. „Sie ist der letztmögliche und verzweifelte Versuch der Krisenbewältigung, wenn andere Möglichkeiten nicht mehr zur Verfügung stehen.“– Inwieweit war der Flammentod des Oskar Brüsewitz nicht nur eine politische Demonstrativtat, sondern auch Suizid? Vor der Tat hatte er seine Grabstelle ausgesucht, in der „Selbstmörderecke“ des Friedhofs, und teilweise bereits ausgehoben. Im Abschiedsbrief an die Amtsbrüder und -schwestern hatte er von einer „Schande“ geschrieben, die er ihnen zumute.

„Oskar Brüsewitz wollte mit seinem Tod sprechen, wollte unüberhörbar etwas mitteilen, was er mit Worten offenbar so nicht sagen konnte“, resümierte der westdeutsche Kirchenpublizist Reinhard Henkys am 12. Februar 1977 in einem Vortrag auf einer CDU-Veranstaltung im hessischen Rotenburg. Jedoch habe Brüsewitz über den Inhalt und die publizistische Verwertung des von ihm gesetzten Zeichens nicht verfügt. „So ist ihm sein Tod von vielen genommen, entfremdet genutzt und vermarktet worden.“ Bis heute dient seine Tat diversen Rechten und Evangelikalen als Projektionsfläche ihrer Gedankenwelt. Was aber war der konkrete Auslöser? Henkys, der sich mit den Kirchen in der DDR wie kein anderer Journalist beschäftigt hat, stellte fest: „Ein aktueller politischer Anlass für seine Tat ist (…) nicht nachweisbar und von ihm nicht genannt worden. Der kurz vorher gelaufene SED-Parteitag hatte keine Verschärfung der kirchenpolitischen Situation gebracht, eher im Gegenteil, auch wurde die Erziehung der Jugend zum Hass und die Diskriminierung christlicher Kinder entgegen vielen Behauptungen in diesem Sommer 1976 nicht verschärft. Die Situation, auf die Brüsewitz reagierte, bestand schon seit Jahren.“

Was wir aber mit Sicherheit wissen, ist, dass Brüsewitz ein apokalyptisches Weltbild hatte. Im Magdeburger Kirchenarchiv findet sich aus dem Jahr 1992 ein 29-seitiger Aufsatz seines Mentors Otto Pappe. Darin schildert der Pfarrer für den Winter 75/76 eine von vielen Zeichenhandlungen, für die Brüsewitz in seinem Sprengel bekannt war. Ein Kirchenältester habe ihm davon berichtet: „Während der Trauerfeier am Grabe wühlte Brüsewitz aus dem Bodenaushub des Grabes einen großen Knochen von einer früheren Bestattung und schwenkte ihn in der Luft. Mit diesem dürren Knochen in der Hand predigte er die Auferstehung der Toten. Die Predigt soll so massiv fundamentalistisch gewesen sein, dass der Kirchenälteste, der Brüsewitz durchaus wohlwollend war, nur sagen konnte: ‚So geht das doch nicht, Herr Pastor!’“

Kann ein Schweigen lauter sein?

Das eigentliche ‚historische‘ Ereignis in der DDR-Geschichte war nicht die Selbstverbrennung des Oskar Brüsewitz, sondern die Reaktionen der Menschen auf den anonymen Kommentar im Neuen Deutschland vom 31. August 1976, indem der tote Pfarrer verhöhnt und diffamiert wurde. Im Magdeburger Kirchenarchiv finden sich rund achtzig Briefe an die damalige Kirchenleitung, die, ebenso wie die Protestbriefe aus dem Stasi-Unterlagenarchiv, den Gedanken naheliegen, dass erst der ND-Artikel „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden“, der tags darauf in allen SED-Bezirksblättern nachgedruckt wurde, eine republikweite Empörung auslöste. Hierbei fällt auf, dass sich unter den Briefschreibern kein einziger Absender aus Brüsewitz‘ Pfarrsprengel befindet. Auf Beschluss der Magdeburger Kirchenleitung wurden alle ihr bekannten Autoren von Briefen und Stellungnahmen am 14. September 1976 zu einem Hearing eingeladen, das am 4. Oktober 1976 in Halle stattfand, im Gemeindehaus der Paulusgemeinde. Von dieser Veranstaltung wurde kein Protokoll angefertigt. Bemerkenswert aber: In der Teilnehmerliste findet sich kein Eintrag aus Rippicha und Umgebung.

Oskar Brüsewitz hatte zu Lebzeiten jeden Rückhalt in der Gemeinde verloren. In den Worten Propst Bäumers am offenen Grab wurde dies, in angemessener Pietät, überdeutlich: Der Bischofstellvertreter erwähnte den Seelsorger Brüsewitz mit keiner Silbe. Bäumer sprach auch nicht davon, dass Brüsewitz in den Gemeinden seines Sprengels beliebt und geachtet war. – Kann ein Schweigen lauter sein? Dass bei der Beerdigung eines Pfarrers dessen Gemeindearbeit nicht erwähnt wird, ist eine klare Aussage.

Der sterbende Jan Palach hatte 1969 in Prag bei seiner Selbstverbrennung noch einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Strömung eine Stimme gegeben. Am Nachmittag seines Todes eilten 200.000 Menschen auf den Wenzelsplatz, um an der Stelle, wo er brennend zu Boden gefallen war, Blumen niederzulegen. Beim Feuertod des Oskar Brüsewitz hat es eine solche oppositionelle Strömung nicht gegeben. Das Begräbnis des Jan Palach war eine Massendemonstration, an der sich rund 10.000 Menschen beteiligt haben. Zur Beerdigung von Oskar Brüsewitz kamen etwa 370 Leute, darunter 72 Pfarrer. Jan Palach ist in seinem Land nie vergessen worden. Nicht so der Pastor aus Rippicha: Solange die DDR noch existierte, sollte kein späterer Bürgerrechtler jemals bemerken, dass an jedem 18. August die Michaeliskirche in Zeitz, vor der diese Tat geschah, verschlossen war. Und auch das Grab des Pfarrers sollte keine Pilgerstätte werden.

Dann vielleicht dann doch kein Symposium?

Karsten Krampitz ist Historiker, Schriftsteller und Journalist. Seine Dissertation trägt den Titel Das Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR infolge der Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz am 18. August 1976 unter besonderer Berücksichtigung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen; diese erschien 2016 im Verbrecher Verlag als Buch: Der Fall Brüsewitz. Staat und Kirche in der DDR (679 Seiten, 29 Euro)

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