Brennende Feuerschalen auf Kundgebungen sind in Berlin grundsätzlich nicht zugelassen, auch nicht im Winter bei Minustemperaturen. Wenn das Schule macht, melden die Autonomen in Kreuzberg am 1. Mai ihre Mollis noch polizeilich an. Die Beamten auf der Versammlungsbehörde sind da knallhart. Wer friert, kann ja nach Hause gehen. Und wenn es sich um Obdachlose handelt, dann müssen die halt zur Bahnhofsmission, so die Ansage der Polizei gegenüber den Anmeldern von der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen e.V. – es sei denn das Feuer ist eine Metapher, „ein Symbol der Kundgebung für die soziale Wärme, die in der Stadt fehlt“. Poeten in Uniform, auch das ist Berlin. Und steht nicht schon geschrieben: „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden, was wollte ich lieber als dass es schon brennte.“ (Lk 12, 49) In der letzten Nacht aber war die Stadtmission mit ihren Leuten andernorts unterwegs…
Zählsorge statt Seelsorge. In der „Nacht der Solidarität“ waren über 3.700 freiwillige Helferinnen und Helfer stadtweit damit beschäftigt, all die Menschen zu zählen und zu befragen, die nachts auf öffentlichem Straßenland schlafen. Vorbild für eine solche Erhebung durch die Bürger sind Städte wie Paris und New York. Und jetzt eben Berlin. In einer Presseerklärung des Senats hieß es, die Stadt folge damit einer langjährigen Forderung von Sozialverbänden und Sozialarbeitern. Aber wollen das eben auch die Betroffenen? Man werde auf Grundlage der erstmals erhobenen Zahlen die Hilfs- und Beratungsangebote ausweiten und spezialisieren. „Denn niemand soll auf der Straße leben müssen!“ Was die Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die LINKE) geflissentlich überhört: Es hat hierzu auch kritische Stimmen gegeben, und das nicht nur aus der Hausbesetzerszene („Zählt nicht uns, sondern Eure Tage!“), sondern auch von den Unbehausten selbst.
„Zählen ist keine Solidarität!“, sagt Stefan Schneider von der Selbstvertretung Wohnungsloser Menschen e.V., der gemeinsam mit dem Berliner Wohnungslosenparlament die Protestmahnwache angemeldet hat. Die Kritik der Unbedachten: Die Ergebnisse der Zählung werden nicht stimmen; die Wohnungslosigkeit vieler Frauen werde gar nicht erfasst (Stichwort Wohnungsprostitution), auch nicht derjenigen Menschen, die auf Dachböden und in Kellern versteckt „Platte“ machten. Zum anderen habe eine bloße Umfrage für so manche Betroffene auch etwas Entwürdigendes, weil sie ja ohne ein konkretes Hilfsangebot daherkommt. „Und das ist das Problem“, sagt Scheider, „Wohnungen für Obdachlose werden nicht in Aussicht gestellt.“ Das Vorzeigeprojekt der Sozialsenatorin, „Housing First“, habe in seinem ersten Jahr lediglich 35 Wohnungen vermittelt; wenigstens das Zehnfache bräuchte man.
„Zählt nicht uns, zählt lieber die leerstehenden Wohnungen!“
In der Gegenkundgebung sehen die Organisatoren einen großen Erfolg. Immerhin waren in den vier Stunden vor dem Roten Rathaus etwas mehr als 100 Menschen vor Ort, darunter sicher ein gutes Drittel wohnungsloser, ehemals wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen. Pfarrer Peter Storck von der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg hielt ein Grußwort. Er forderte, dass das Recht auf Wohnen endlich ins Grundgesetz geschrieben wird. In der Berliner Verfassung steht es bereits drin, Artikel 28: „Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum…“ – Papier ist geduldig. Bemerkenswerter Weise merkte Pastor Storck auch an, dass er der „Nacht der Solidarität“ durchaus auch positive Seiten abringen könne. Immerhin gingen hier mehrere Tausend Menschen erstmals auf Obdachlose zu.
Anders Nicole Lindner vom Wohnungslosenparlament: In dem Umfragespektakel sieht sie nur eine mit großem Aufwand betriebene Symbolpolitik, eine Geste, die an der steigenden Zahl der Menschen, die kein Zuhause haben, nichts ändern wird.
Tex Brasket, ein Straßenmusiker, rief in Richtung Rathaus: „Zählt nicht uns, zählt lieber die leerstehenden Wohnungen!“, um dann zur Gitarre zu singen: „Die Frau von der Caritas riecht nach Chanel / aber du riechst nach Berlin.“ Überhaupt haben sich erstaunlich viele Künstler dem Protest der Wohnungslosen angeschlossen: Die Tsootsies rappten vom „Schicksaal, du Wichser“ und auch die großartige Bernadette La Hengst sang gemeinsam mit dem Chor der Statistik: „Wem gehört die Straße? / Wem gehört die Stadt?“ Nicht zu vergessen, das Künstlerkollektiv Reflektor Neukölln, das eine Gruppe lebensgroßer und echt aussehender Puppen vor dem Rathaus platzierte; weiß geschminkt, trugen sie nur das Nötigste bei sich: Zahnbürsten, Stofftier, Spielzeug – eben das, was man in der Eile mitnehmen würde, wenn man überraschend aus der Wohnung muss.
Elke Breitenbach hätte gut daran getan, ein, zwei Schritte auf ihre Kritiker zuzugehen. Auf anderen Themenfeldern würde eine solche Praxis nicht akzeptiert werden. Undenkbar, dass man Frauenpolitik über die Köpfe der Köpfe der Frauen hinweg macht; ebenso eine Behindertenpolitik ohne Menschen mit Behinderung mit einzubeziehen (die Aufzählung ließe sich fortsetzen). Bei der Wohnungslosenpolitik des Senats aber wird dergleichen praktiziert. Mag sein, dass es bei der Strategiekonferenz vor zwei Jahren in Berlin noch keine Obdachlosenvertretung gegeben hat; inzwischen aber gibt es auch in diesem Bereich seitens der Betroffenen für die Politik Ansprechpartner.
Die Ergebnisse der Zählung sollen auf einer Pressekonferenz am 7. Februar 2020 verkündet werden. Danach werden wir wissen, dass in Berlin mehr als zehntausend Männer auf der Straße leben; die meisten von ihnen kommen aus Polen und Russland. Viele sind alkoholkrank und psychisch schwer belastet. Und nun? Was hat der Rummel gebracht? Die große Welle der Solidarität wird ausbleiben.
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