Halberstadt, das Tor zum Harz, ist bekannt für seine Würstchen und Soldaten. Bis 1994 war der Ort fast 400 Jahre lang Garnisonsstadt. Bäcker, Hufschmied und Friseur, alle profitierten davon. Zuletzt waren DDR-Grenztruppen und Regimenter der sowjetischen Streitkräfte hier stationiert. Außerdem war der Ort von 804 bis 1648 Bischofssitz und soll einmal eine schöne Fachwerkstadt gewesen sein. Davon ist kaum noch was zu sehen. Der Bischof ist längst fortgezogen, und die hübschen Häuschen gingen 1945 in Flammen auf. Ein Fliegerhorst und eine Niederlassung der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke A.G. vor der Stadt zogen gegnerische Bomber magisch an; da war’s mit dem Profitieren vorbei. 1990 wurde der marode Ort zum Sanierungs-Modell. Und so sieht er nun auch aus.
Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei etwa zwölf Prozent, was als Erfolg gepriesen wird. Es ist aber nur ein Triumph statistischer Trickbetrügerei. Halberstadt ist abgehängt. Man sieht es auf den ersten Blick.
Es war aber einmal eine Zeit – die ist noch nicht lange her, 20 Jahre um genau zu sein – da hier das Geld zuhause war. Das war allerdings schon wertlos in jenen Tagen und alle Welt wollte es schnell loswerden. Aus den Augen sollte es und aus dem Sinn. Deshalb wurde es tonnenweise in den Ort gekarrt. Ich folge heute dem Weg dieses Geldes. Hin zu dem Berg, in dem es damals versteckt lag. Hinein in die Gänge und Stollen. In eine Geschichte unter Tage.
Der Grund für die Geldtransporte nach Halberstadt war die so genannte Währungsunion. Sie trat zum 1. Juli 1990 in Kraft und ist in Wahrheit natürlich keine Union gewesen, sondern eine Abschaffung und ein Beitritt wie alles Übrige auch. Der 1. Juli 1990 setzte den eigentlichen Schnitt im Prozess von Wende und Wiedervereinigung. Das neue frische Geld, der große Fetisch, kam unter die Fetischisten. Es bewies dem DDR-Bürger, der bis dahin Geld nur als Zahlungsmittel gekannt hatte, seine ungeahnten Kräfte. Da hatte der Ossi nun seinen Marx studiert und verstand erst jetzt: was mein Geld kaufen kann, bin ich selbst.
Ich erinnere mich, ich wollte zum 1. Juli 1990 in Urlaub fahren und brauchte zuvor eine Sonnenbrille. Ich durchstreifte die ostdeutsche Stadt, in der ich damals lebte, auf der Suche nach einem Optiker, der noch irgendetwas anbot. Aber die Regale waren leer. Sie warteten auf Ray Ban, Hugo Boss Co. Ich bekam schließlich noch ein Gestell mit schweren hellen Gläsern, über die man dunkle Scheiben klappen konnte. Die Brille war hässlich und wog mindestens ein Pfund. Schon am ersten Urlaubstag hatte ich Schürfwunden an der Nase. Das war meine Währungsunion: Sonnenbrand und eine blutige Nase.
Zurück nach Halberstadt. Das Ostgeld, das damals hierher kam, hatte abgewirtschaftet, wie so mancher Halberstädter heute. Es sollte sich jedoch zeigen, dass die wertlosen Scheine nicht so leicht totzukriegen waren, wie man gedacht hatte. Sie zu vernichten, wurde ein langer, kostspieliger Kampf.
Unter den Augen des Gläsernen Mönchs
Unweit von Halberstadt liegen die Thekenberge. Ich nehme mir am Bahnhof ein Taxi. Fahren Sie über den Tiergarten, hatte man mir gesagt, die Brücke ist nämlich gesperrt. „Über den Tiergarten?“, wundert sich der Taxifahrer, „die Brücke ist doch gesperrt!“ Ich wähle die Nummer dessen, der mir die Auskunft gab, reiche mein Handy an den Fahrer weiter. „Ja“, fragt der und sagt: „aha, hä, okay.“ Und nickt. Alles klar. Und fährt mich in weitem Bogen – und natürlich falsch. Aber egal. So komme ich zu einer schönen Rundfahrt, und der Fahrer macht den Touristenführer.
Gleich als wir die Stadt verlassen, blicken wir übers weite Harzvorland. Ganz hinten am Horizont liegt im Dunst der Brocken. Bewaldete Hügel, die sich hinter Feldern linkerhand erheben, das sind die Thekenberge. Von weitem sieht man einen Fels herausragen, der wie vom Elbsandsteingebirge hergeholt scheint. Das ist der Gläserne Mönch. Das Taxi stolpert an einem Bahnhof vorbei, wir kommen in das Dorf Langenstein. Wie sein Name sagt, säumt es lang gestreckt die Straße. Hier sieht man jene schönen Fachwerkhäuser, die wohl einst auch in Halberstadts standen.
Dann geht’s raus aus dem Dorf und auf einem Feldweg weiter. „Da drüben“, erklärt der Chauffeur, „am Fuß der Thekenberge, da stand mal das Landhaus. Sind wir früher gerne hin. War ne super Kneipe. Ist aber schon vor Jahren abgebrannt.“
Das Landhaus? Darüber habe ich gelesen. Als im April 1944 ein Häufchen Häftlinge aus dem KZ Buchenwald hier eintraf, campierte es dort zunächst. Am Langensteiner Dorfbahnhof waren die Männer ausgeladen worden – wie noch viele nach ihnen, 7.000 insgesamt – und errichteten als Vorauskommando das spätere KZ Langenstein-Zwieberge. Die Dörfler in ihren hübschen Fachwerkhäuschen sahen sie durch den Ort ziehen. Der Pfarrer Hager beschreibt es in seinem Buch Protokoll des Unbegreiflichen: „Was wir sahen, waren fahle, abgemagerte Gestalten im Dämmerlicht der Nacht daherkommend, Kolonne auf Kolonne in blauweiß gestreifter Sträflingskleidung und in Holzschuhen, von Wachmannschaften und Hunden begleitet.“
Wald und Berg von Dr. Triebler
Sie sahen überhaupt recht viel, die Langensteiner. Es war alles gar nicht so geheim. Auch was Reichswehr und Luftwaffe trieben. Ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1935 wusste bereits von einer lautstarken Übung „auf dem sonst so friedlichen Bahnhof Langenstein“ zu berichten. Truppenverladungen sollten gegen Luftangriffe geschützt werden. Da wurde „geballert aus allen Rohren“, heißt es, und „ungezählte Schlachtenbummler“ fanden sich ein, um das Schauspiel mitzuerleben. „Schulklassen, frühere Militärs und wer sonst nur irgendwie Zeit hatte, nutzte den schönen Sonnentag aus und pilgerte nach Langenstein.“
Unser Taxi holpert weiter über den Feldweg, wir ziehen eine hohe Fahne Staub hinter uns her. „Hier sind wir lang marschiert“, erklärt mein Reiseführer, „Gedenkmarsch zum ehemaligen KZ. Kranz niedergelegt, anschließend eingekehrt im Landhaus.“ So schließt sich der Kreis. Dann kommen wir vor das Tor des ehemals streng bewachten Militärobjekts. Am Eingang erwartet mich Dr. Stephan Triebler. Ihm gehört das Areal. Er stammt aus Köln, ein blasser Mann mit Bürstenschnitt. 1996 hat er das Objekt gekauft: die Berge mit ihren Stollen darin, den Wald darauf und die verfallenden Bauten. Ich bin immer wieder von Neuem schockiert, wenn ich höre, dass man Wald und Berge für Geld kaufen kann. Ich will mich daran einfach nicht gewöhnen. Und dabei weiß ich doch: was mein Geld kaufen kann, bin ich selbst.
Freundlich empfängt mich Dr. Triebler. Ich steige vom Taxi um in seinen Mercedes, wir fahren auf das Gelände. Hier ist die Zeit stehen geblieben, seit mehr als 15 Jahren. Die NVA-Garagen für Lkw und Schützenpanzerwagen und die Unterkunftsbaracken stehen leer, sie verfallen. In einer Garage hält ein Bauer Schafe, zwischenzeitlich gab es mal eine Hundepension. Letztens fand auf dem Gelände eine Techno-Party statt. Aber im Großen und Ganzen passiert gar nichts. Dr. Trieblers Investition in die Thekenberge ist gescheitert.
Was mein Geld kaufen kann, bin ich selbst
Am Saum des Bergs angekommen, fahren wir mit dem Wagen hinein. Befestigte Straßen, insgesamt etwa 13 Kilometer, unter denen die Kanalisation läuft, führen hier drinnen entlang, selbst Lastwagen können fahren, und es gibt einen Gleisanschluss, ein ganzer Güterzug passt hier rein. Zwölf Meter hoch wölbt sich über uns der Stollen, in den Berg getrieben von den KZ-Häftlingen 1944/45. Tausende sind bei den Arbeiten qualvoll gestorben. Der Tarnname für das Projekt: Malachit. Sein Ziel: bombensichere Rüstungsproduktion. Dazu ist es allerdings nicht mehr gekommen. Eine kleine Gedenkstätte erinnert an das Leiden der Häftlinge. Dr. Triebler hat ihr einige Meter Stollen zur Verfügung gestellt. „Das war nicht die Voraussetzung für den Kauf des Geländes damals. Das fand ich ganz selbstverständlich, dass man das macht, das war mir ein Bedürfnis“, sagt er.
Mit Spritzbeton ausgekleidet wurden die Stollen in den achtziger Jahren durch die NVA. Die sicherte sich das Untertage-System, um hier Waffen und Ausrüstung zu lagern. Außerdem wurde eine Warm- und Kaltwasserversorgung installiert, drei Tiefbrunnen gebohrt, Unterkünfte eingebaut, ein Heizhaus entstand außerhalb. Schwere, 40 Zentimeter dicke Stahltore sollten das System gegen Angriffe von außen bewehren, angeblich sogar gegen die Druckwelle eines Atomschlags. Sie nannten die Anlage: Komplexlager 12. 1984 war sie fertig.
Hier hat Max Dierich gearbeitet. Als Klempner war er seit 1982 Zivilangestellter bei der NVA, anschließend noch vier Jahre weiter tätig für die Bundeswehr. Er nennt es seine „Dienstelle“, wenn er von dem Areal spricht, und er sagt: „das Bereich“. Das ist NVA-Jargon, das ist so drin. Du kriegst einen Jungen vielleicht aus der Armee, aber nie die Armee ganz aus einem Jungen. Gegenwärtig arbeitet er außerhalb, fährt auf Montage, stellt Biogasanlagen auf, vor allem im nordwestdeutschen Raum. Dierich ist Jahrgang 1955. „Du bekommst hier nichts“, sagt er „im Harz ist tote Hose.“ Seine Frau ist arbeitslos. Die Jahre unter Tage, so scheint es, waren seine schönste Zeit. Er hat die Anlagen mit gebaut und später gewartet. Er war 1990 dabei, als hier das Geld rein kam. schätzungsweise 100 Milliarden DDR-Mark.
Seltene 200er und 500er Scheine
Alarm frühmorgens, ganz zeitig, gegen drei Uhr. Das kennt er schon, es wurde ja öfter Krieg gespielt. Aber jetzt sind die Zeiten andere, die NVA wird in wenigen Monaten Teil der Bundeswehr sein. Was soll diese Übung? Im Speisesaal unter Tage erfahren sie es: Hier im Berg wird das gesamte DDR-Papiergeld eingelagert. Ein Stollen wird ausgewählt. Es werden Förderbänder hineingebracht, sechs hintereinander. Dann kommen die Lkw. Mit Polizeieskorte fahren sie durch Halberstadt, Tag und Nacht. Das Geld ist zu der Zeit noch offizielle Währung. Es läuft alles streng geheim. Aber trotzdem weiß bald jeder Halberstädter Bescheid. Einmal ist der Bundesbankpräsident vor Ort und verspricht den Leuten, die da schuften: Am Ende gibt’s für jeden einen Schein von jeder Sorte, auch von den nie ausgegebenen 200 und 500 DDR-Mark-Scheinen. Da wartet Max Dierich heute noch drauf. Weil es mit den Lkw nicht schnell genug geht, kommt das Geld auch in Waggons der Reichsbahn heran. Per Hand wird es ausgeladen und aufs Förderband geworfen. Es liegt in Plastiktüten eingeschweißt. Zwölf Meter hoch, bis unter die Decke, wird es gestapelt. Man mischt Sand dazwischen und füllt Kalkwasserschlamm auf. Hier soll es nun verrotten.
Doch das tut es nicht. Plötzlich tauchen die seltenen 200er und 500er Scheine auf dem Sammlermarkt auf. Der Besitzer, die Bundesbank, wird stutzig. Man geht der Sache nach und entdeckt Einbruchstellen. Das Geld ist in den Säcken sauber geblieben – das hätte man sich eigentlich denken können. Es wird wieder rausgeschafft aus dem Berg. Mühsam trennt man wieder Geld und Dreck. Schließlich wird es geschreddert und verwirbelt und mit Hausmüll gemischt – und da verbrennt es endlich.
Was bleibt? Eine Tour nach Halberstadt, 20 Jahre danach, in einen Ort mit viel Vergangenheit und wenig Zukunft. Und ein Satz von Marx über Sein und Haben: „Reicht die physische Kraft hin, so plündere ich dich direkt. Ist das Reich der physischen Kraft gebrochen, so suchen wir uns wechselseitig einen Schein vorzumachen, und der Gewandteste übervorteilt den andern.“
Der Satz passt prima nach Halberstadt.
Karsten Laske ist Filmregisseur und Träger des Deutschen Drehbuchpreises 2010
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