Das schönste Jahr der Hitlerzeit

Deutschland vor 70 Jahren Leben im Zwielicht, Alltag zwischen Noch und Schon

In manchen Schreibwarenläden und Geschenkeshops gibt es sie. Geburtstagskarten, da steht vorn groß eine Jahreszahl drauf und darunter: war ein besonderes Jahr. Man kann diese Karten aufklappen und findet darin jeweils eine Video-CD mit etwa einer Viertelstunde Film-Ausschnitten aus Wochenschauen oder dem DEFA-Augenzeugen. 1925 war ein besonderes Jahr, 1939 auch, 1960 oder ´73 - alles besondere Jahre. Echocards heißen die Dinger und sind ziemlich teuer. Ein Verlegenheitsgeschenk.

1937 war ein besonderes Jahr. Es ist das Geburtsjahr von Robert Redford, Saddam Hussein und Dustin Hoffmann. Hans Filbinger stellt am 20. Mai seinen Aufnahmeantrag in die NSDAP. Die Autobahn Berlin-Hannover wird fertiggestellt. Heinz Rühmann und Hans Albers spielen im UFA-Film Der Mann, der Sherlock Holmes war. Und der erste abendfüllende Zeichentrickfilm von Walt Disney kommt auf die Welt: Schneewittchen und die sieben Zwerge.

Wenn man die CD einlegt, sieht man bewegte Bilder von der 700-Jahr-Feier Berlins. Am Roten Rathaus ist es zehn vor drei, Hakenkreuzfahnen flattern im Wind. Die Menschen applaudieren dem Festumzug, heben den rechten Arm. Dann überträgt das Reichspostzentralamt erste Fernseh-Versuchssendungen. Goebbels predigt zu Weihnachten: "Friede unter den Menschen auf Erden!" Und Göring hat einen Auftritt am Gabentisch, wo er einem Vierjährigen einen Stahlhelm überstülpt und sagt: "Menschenskind, ´n ganzen Stahlhelm kriegste uff´n Kopp! Sapperlot noch mal. Hoj, na Donnerwetter ..." Wer Jahrgang ´37 ist, muss befürchten, zu seinem Siebzigsten in diesem Jahr diese Geburtstagskarte zu bekommen.

"Deutschland kann lachen, weil das neue Deutschland wieder lachen kann!"

1937 war ein besonderes Jahr. Wieso? Es ist doch nichts passiert! Die Olympiade fand im Vorjahr statt, die Synagogen brannten im nächsten. Wenn man Geschichte an historischen Daten festmacht, findet das Jahr ´37 eigentlich nicht statt. Wer dagegen der Strukturgeschichte den Vorzug gibt, für den steckt das Jahr ´37 voller Spannung. Es ist ein Jahr zwischen Noch und Schon.

"Wenn Hitler 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre", heißt es bei Joachim Fest, "würden wohl nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte zu nennen ..." Darüber kann man geteilter Meinung sein. Dennoch bringt das bekannte Zitat eines wohl richtig zum Ausdruck: was damals Alltagserfahrung gewesen ist. Der Nationalsozialismus, ob man ihn mochte oder nicht, schien der richtige Weg zu sein.

Das hat zunächst einen bekannten, handfesten, sozialen Grund. Im September 1937 erreichen die Arbeitslosenzahlen einen vorläufigen Tiefstand von 469.000, und sie werden noch weiter sinken. Zum Vergleich: Im Januar 1933 waren es 6.014.000. Ein radikaler sozialer und mentaler Wandel. Auch wenn man sich hüten muss, den damaligen Aufschwung mit heutigem Wohlstand gleichzusetzen. Viele Arbeiter können sich beispielsweise die billigen KdF -Fahrten nicht leisten. Ein Maurer, der 1929 149 Reichspfennige pro Stunde verdiente, bekam 1938 nur noch 86 Reichspfennige.

Trotzdem. Die Atmosphäre im Land hat sich grundlegend gewandelt. Niemand muss fürchten, dass der Boom plötzlich wieder vorbei ist. Man kann, scheint es, auf die Zukunft bauen. Die Deutschen sind erfolgreich, werden in den Nachbarstaaten gar beneidet. Man ist beschäftigt, da hat man wenig Zeit zum Nachdenken.

Für die damals achtjährige Stefanie Demuth aus Schwerin war 1937 ein sorgenfreies und glückliches Jahr. Ihre Familie bekam eine größere Wohnung, in der Jugendgruppe gab es für die Kinder neue, schöne Kleider und der Vater konnte der Familie einen Opel kaufen. Er war in der Partei, und Realität und Parteiideologie schienen deckungsgleich - allen ging es besser. Absoluter Höhepunkt des Jahres für die kleine Stefanie: Bei einer Autobahn-Eröffnung durfte sie dem Führer einen Blumstrauß reichen.

Die Jugend ist angetreten. Sie ist nicht länger in Gefahr, aus Not kriminell zu werden, sie kann sich bei Sport und Spiel ertüchtigen. Die Olympiade des vergangenen Jahres ist noch in bester Erinnerung. Am 19. April, dem Vorabend von Hitlers Geburtstag, verkündet Reichsjugendführer Baldur von Schirach, dass nach nur siebenwöchigem Propagandafeldzug über eine Million Jungen und Mädchen in die Hitler-Jugend aufgenommen worden seien.

Ähnlich wie Frau Demuth erinnert sich Rosemarie Voigt aus Braunschweig (Jahrgang 1928) einer rundum glücklichen Kindheit. Ihr Vater war Mittelschullehrer, er verdiente gut, die Familie konnte sogar im Sommer 1937 nach Italien in die Ferien fahren. Die Mutter beschäftigte eine Haushaltshilfe, und in der Schule gab es viele Feste und Umzüge. "Es herrschte ein positive, gemeinschaftliche Stimmung", sagt sie. "Obwohl mein Vater in der NSDAP war, war das Familienleben kaum politisch geprägt. Politik war zu Hause, zumindest in Anwesenheit der Kinder, kein Thema." Man akzeptierte ohne Frage die Regierung.

Es gibt ein breites Alltagsangebot jenseits von Aufmärschen und Fahnen - von den bekannten UFA-Unterhaltungsfilmen bis hin zu Varietés und Lotterievereinen - das die Leute gern in Anspruch nehmen.

Das alles erscheint uns heute als eine breit aufgestellte Kulisse, die die verbrecherischen Ziele des nationalsozialistischen Systems zu verschleiern suchte. Aber wir dürfen davon ausgehen, dass die Menschen, die inmitten dieser "Kulisse" lebten, sie nur schwer als solche erkennen konnten. "Deutschland kann lachen, weil das neue Deutschland wieder lachen kann!" Mit diesem Spruch wirbt die UFA für den Rühmann-Streifen Wenn wir alle Engel wären.

Nazi-Deutschland ist ein modernes, scheinbar fortschrittliches Land. Das hat fasziniert. Wer wollte da abseits stehen?

"Ich war nich´ so begeisterungsfähig", sagt Ilse Thierse (Jg. 1923). Sie lebte im ärmlichen Teil von Braunschweig. Zwar hatte die Familie "von Adolf" 1936 eine etwas größere Wohnung bekommen, doch das machte sie nicht zu Anhängern Hitlers. Ilse und ihre Schwester wollten nicht in die HJ. "Ich hatte gar keine Zeit für so was!" Die damals 14-Jährige arbeitete für ein jüdisches Modegeschäft, für das sie Kleider austrug. Davon erzählte sie den Eltern aber vorsichtshalber nichts. In der Schule wurde sie oft aufgezogen, weil sie nicht Hitlermädel war. Doch weil sie sehr gute sportliche Leistungen brachte, wurde ihre Entscheidung akzeptiert. "Als arme Familie hatte man Wichtigeres zu tun, als sich über die Nazis Gedanken zu machen", sagt sie. "Man war nicht für, aber auch nicht gegen die. Die Devise war: nicht auffallen."

1937, das schöne, blühende, unbeschwerte Jahr der Hitlerzeit? Das Schlangenei, das der Filmregisseur Ingmar Bergman einst als Metapher bemühte, fällt einem ein. Das Reptil ist noch nicht aus seinem Ei geschlüpft, aber man sieht durch die dünne, durchsichtige Schale: sein Herz schlägt.

"Wir zogen übers weite Meer ins fremde Spanierland, zu kämpfen für der Freiheit Ehr´, weil Hass und Krieg entbrannt ...

... hier herrschten die Marxisten und Roten, der Pöbel, der hatte die Macht. Da hat, als der Ordnung Boten, der Deutsche Hilfe gebracht." Das ist der Parademarsch der Legion Condor. Der Spanienkrieg tobt. Seit 1936 herrscht in Deutschland wieder allgemeine Wehrpflicht. Am 26. April ´37 zerstören deutsche Flugzeuge die baskische Stadt Guernica. Durch Rotation der Kontingente kommen insgesamt rund 20.000 deutsche Soldaten auf dem spanischen Kriegsschauplatz zum Einsatz.

Hitler erklärt in einer geheimen Konferenz vor Vertretern der Wehrmacht und dem Außenminister am 5. November seine Absicht, in Europa Krieg zu führen ("Hoßbach-Protokoll"). In Hamburg läuft der erste Kreuzer, die Admiral Hippler, bei Blohm Voss vom Stapel. In der Lüneburger Heide wird erstmals das bei IG Farben synthetisierte Nervengas Tabun verschossen. - Aber natürlich liefen diese Dinge geheim. Jene verräterische Niederschrift von Oberst Friedrich Hoßbach zum Beispiel wurde erst im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher öffentlich.

Die Friedensdemagogie jener Zeit hat die Masse überzeugt. Noch der Anschluss Österreichs im Folgejahr wird als Sieg des Friedens gefeiert. Mehr noch, diese Demagogie koexistierte mit einer "Erziehung zum Tod", die es natürlich auch gab - und die uns ungleich bekannter ist.

Als Ruth Beehde 1937 im Alter von sechs Jahren in Nürnberg zur Schule kommt, erklärt der Lehrer, dass Ruth und Rahel jüdische Namen sind. Das Kind fühlt sich so schlecht, dass es zu Hause fragt, ob es seinen Namen ändern dürfe. Die Eltern bringen Ruth zwar von dieser Idee ab, aber ihre Lektion, dass "jüdisch" etwas Falsches sei, hatte das Kind gelernt. Als sie mit ihrer Mutter wenige Wochen später in ein jüdischen Geschäft kommt, sagt sie laut: "Mama, wir dürfen hier nicht einkaufen!"

Die "Nürnberger Gesetze" sind seit zwei Jahren in Kraft. Daran gewöhnt man sich, wenn man das Glück hat, "Arier" zu sein. Selbst viele Juden machen sich falsche Hoffnungen. Im November ´37 eröffnet Goebbels in München die Propagandaausstellung "Der ewige Jude". 1937 wird auch das KZ Buchenwald errichtet. Aber die "Endlösung der Judenfrage" ist noch kein fertig formulierter Plan. Die Barbaren "barbarisieren" sich selbst erst im Lauf der Jahre, und der Krieg beseitigt schließlich die letzten Hemmungen und Skrupel.

Im Sinne der "Rassenhygiene" und im Interesse der "Aufartung des deutschen Volkskörpers" werden Menschen mit geistigen oder physischen Behinderungen zunehmend verfolgt. Seit 1935 gilt das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Die Propaganda läuft ganz in diesem Sinn. Dennoch, auch hier gibt es Widersprüchliches. Zum einen wird natürlich nicht jeder Deutsche dieser Propaganda aufgesessen sein, vor allem nicht, wenn er eines der potentiellen Opfer dieses Wahns kennt und liebt. Zum anderen sind auch die Betroffenen, ihre Pfleger oder Angehörigen oft nicht gefeit, der Demagogie zu erliegen.

Zu jenen zum Beispiel, die den "rassehygienischen" Vorstellungen des NS-Staates aufgeschlossen gegenüberstehen, gehören leider viele Lehrkräfte an den Taubstummenschulen. Um die Existenz der Schulen zu sichern, ändert man den Unterricht und stellt die "Brauchbarmachung" der Schüler in den Mittelpunkt. Die Vermittlung der Erb- und Rassenlehre wird wichtiges Unterrichtsziel, um bei den Schülern und Eltern Verständnis für die Maßnahmen der Regierung zu wecken. Taubstummenlehrer zählen zu den eifrigsten Propagandisten der Sterilisierung. Das Ziel, die Gehörlosen zur Selbstanzeige und einer Sterilisation auf eigenen Wunsch hin zu bewegen, kann zwar nur selten erreicht werden, aber auch hier werfen die zukünftigen Aktionen der Tötung "lebensunwerten Lebens" ihre finsteren Schatten bereits voraus.

Gleichzeitig gibt es Sonderformationen für Blinde, Hörgeschädigte und Körperbehinderte in der Hitlerjugend. Keiner, scheint es zunächst, soll von der Bewegung ausgeschlossen werden. Die Quelle ist eine HJ-Monatsschrift, die vom "HJ-Bann G" für Gehörlose herausgegeben wird. Es stellt sich uns heute die Frage, wie die Existenz solcher Sonder-Banne in der HJ mit der Staatspropaganda einhergehen konnte. Als wie schizophren wurde das wahrgenommen - und gelebt?

Konrad Förster aus Mecklenburg, damals elf Jahre, war ein uneheliches Kind. Sein leiblicher Vater war Jude, seine Mutter NSDAP-Parteigenossin. Sie heiratete einen "Arier", der den Jungen adoptierte. Doch Konrad sah sich trotzdem in Gefahr. Als uneheliches Kind hatte er zunächst einen behördlichen Vormund bekommen, der auch nach der Adoption über seine Herkunft Bescheid wusste und ihn jeder Zeit auffliegen lassen konnte. Konrad lebte zwischen beiden "Seiten", er war zwar nicht Jude, aber auch nicht arisch. Später machte er in der HJ eine Segelflugausbildung. Aber immer, wenn es ein Formular auszufüllen gab, musste er höllisch aufpassen, dass er sich nicht verriet. Diese ständige Vorsicht ließ ihn zunehmend kritisch werden. "Ich empfand Hitler immer als gefährlich."

Wenn wir heute auf das Dritte Reich, auf das System Hitlers blicken, erkennen wir es als nur durch Krieg finanzierbar und durch Volksverhetzung legitimiert. Es ist der richtige Blick, natürlich. Aber unser Blick ist einfach. Es fällt uns leicht, zu bewerten, zu beurteilen. Es fällt uns schwer, zu verstehen.

Wenn also in Geschichtsbetrachtungen zunehmend nach dem Alltag gefragt wird, geht es letztlich um das "Erlebnis Geschichte", um ein tieferes Verstehen einer Vergangenheit, die einmal Gegenwart gewesen ist. Wir sollten das nicht den Souvenirshops und Postkartenherstellern überlassen.


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