Es hat heftig geschneit. Die Stadt ist weiß. Da sehe ich ihn im Park. Er ist sehr alt geworden. Es steht ein Schild: kein Winterdienst, aber es ist sein Park, schon immer, also räumt er mit einem Schneeschieber die Wege frei. Zwei Verrückte gab es bei uns im Ort, er ist einer davon. Ich hatte nicht geglaubt, dass er noch lebt. Wo mag der andere begraben sein?
Ich bin zu Besuch bei den Eltern, die Stadt ist hässlich, der Schnee tut ihr gut. Das Fremde, Andere hat es nicht leicht hier. Selbst meine Mutter, die es besser wissen müsste, nennt den Obsthändler "Fitschi". Ich bitte sie, das zu lassen, aber ich wette, sobald ich weg bin, sagt sie´s wieder. Sie wäre auch sonst die Einzige hier, die "Vietnamese" sagt, und das wäre irgendwie unpassend.
Der Ort, von dem ich spreche, die kleine Industriestadt Glauchau, ist heute natürlich keine Industriestadt mehr, sondern ein sehr liebliches Beispiel für den blühenden Osten, in dem sich Senioren in Rosarien und Kastanienhainen genügsam ergehen. Die Stadt verliert sich in vollständiger Bedeutungslosigkeit. Wer jung ist und irgend kann, flieht aus ihr.
Früher wurde hier Garn gesponnen, es wurden Maschinen gebaut. Trotzdem kannte schon damals kein Schwein diese Stadt. Georg Bauer wurde hier geboren, der sich Georgius Agricola nannte. Aber auch der ist schnell abgehauen nach Freiberg und unter Tage. Und wen interessiert schon Agricola? Nein, sie hat überhaupt nur einen einzigen wirklich berühmten und bedeutenden Mann hervorgebracht, diese graue Stadt, den wir als Jugendliche alle verehrten: Dr. Siegfried Schnabel. Er hatte das Buch Mann und Frau intim geschrieben, einen absoluten Bestseller. Auch wenn die gestrichelten Mann reichlich spröde waren, ging das Buch eilig von Hand zu Hand.
Das einzig Bunte im Ort war der Fluss. Was die Tuch-Färberei gerade in ihren Töpfen hatte, grün oder lila, sah man an seiner Farbe.
Rita Gärtner schrieb mir ins Poesiealbum: "Vergiss nie, von wo du gekommen, gedenke immer mein! Deine Rita Gärtner". War sie meine erste Liebe? Vergessen.
Und sonst?
Da gab es eben diese beiden Verrückten. Der eine, den ich jetzt wiedersah, harkte im Park das Laub - und dirigierte dabei ein Orchester. Tschaikowski und Brahms waren seine Lieblinge. Wir Kinder schlichen uns leise an, wenn er auf den Kieswegen arbeitete und im Rhythmus und Klang seines Rechens Musik hörte. Er bemerkte uns nicht, ganz versunken war er in sein Dirigat. Wir schlichen näher und näher. Plötzlich schraken wir zurück. Von einer Achtelnote auf die andere war er zornig geworden. Das Dirigat geriet außer Kontrolle, wütend stampfte er auf. Seine Musiker hatten sich verspielt. Tschaikowski ist nicht Beethoven, schnauzte er und fuchtelte wild mit dem klingenden Rechen. Er beschimpfte den Konzertmeister, wetterte gegen die Oboen, störrisches Holz, alles mit dem Rechen, in dem sich ein Stein verfing. Schlafmützen! Als er mit den Bratschen haderte, sprang der Stein fort, spritzte über den Weg, die Zinken klangen ihm nach wie Stimmgabeln. Wir stoben davon. Pizzicato, rief er uns hinterher, pizzicato! Wir konnten nicht glauben, dass einer so verrückt war, und wurden den Verdacht nicht los, er habe uns zum Narren gehalten. Welche Musik mag ihm jetzt im Schnee erklingen?
Der andere Narr war selten zu sehen. Er war schon alt und saß meistens im Knast. Er wird längst gestorben sein. Damals jedoch war er ein munteres Kerlchen. Bei den Nazis, erzählte man, habe er immer die Faust zum Roten Gruß geballt, jetzt rief er "Heil Hitler!" Pünktlich vor allen staatlichen Feiertagen buchteten sie ihn ein, vormals wie damals. Wenn er gelegentlich draußen war, erschien er als vollkommen friedlicher, gut gelaunter Geselle. Er stand am Markt gegen eine Hauswand gelehnt, grüßte freundlich und winkte oft. Man hatte ihm früh beigebracht, immer höflich zu sein. Das beherzigte er. Jovial hob er den Arm, als er uns Schulkinder mit den Ranzen auf dem Rücken kommen sah: "Heil Hitler!"
Sein schönster Streich - aber das mag eine urbane Legende sein - war, dass er eines Tages auf der Polizeiwache erschien und meldete, die Thälmannbrücke werde gesprengt. Woher er das wisse? Das könne er nicht verraten. Man behielt ihn ein paar Stunden da, aber bekam nichts weiter aus ihm heraus, als dass am Sonntag, pünktlich nachmittags um drei, die große Brücke, die über die vielfarbige Mulde führte, gesprengt würde. Natürlich glaubte ihm keiner.
Dennoch ging man auf Nummer Sicher und schickte am Sonntag ein kleines Polizeiaufgebot. Die Genossen gingen in Stellung. Pünktlich um drei kam unser Freund. Unbekümmert zottelte er heran. Er schleppte eine Gießkanne, lief an den Bullen vorbei und begann, mit der Kanne die Brücke zu begießen: zu sprengen, wie man in Sachsen sagt. Nach dieser Aktion hat man ihn lange, sehr lange nicht gesehen.
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