In Berlin ist immer irgendein Kiez gerade angesagt. Man muss aufpassen welcher, denn es ändert sich ständig, und nur die hellsten Köpfe kriegen rechtzeitig mit, wo sie hin müssen. Die anderen kommen mit ihren Möbelwagen angedüst, wenn alles zu spät ist. Die wirklich coolen Typen sind dann schon weitergezogen, die Ecke ist out und füllt sich mit Spätzündern. In New York, sagt man, geht es genauso zu.
Als ich 1989 zufälligerweise am Oranienburger Tor wohnte und über Nacht ungefähr ganz Ostberlin angesagte Zone wurde - am allerangesagtesten aber war, wo ich wohnte, die Gegend ums Tacheles - war das einst so müde Pflaster vor meiner Tür heiß, der Planet drehte sich um meine Achse, und ich fühlte mich pudelwohl.
Wenn ich auf die Straße ging, wurde ich allerdings von Touristen bestaunt wie die Einschusslöcher in der Fassade meines Hauses. Sie nannten mich einen "waschechten Berliner", was ich gar nicht bin; sie meinten wohl "Waschbär", denn sie guckten wie im Zoo, aber auch da mussten sie mich mit jemandem verwechselt haben.
Ich selbst begann, mich wie ein Tourist zu fühlen, und staunte, dass man im Laden an der Ecke überhaupt noch Deutsch sprach, sogar berlinerte, und nicht etwa Französisch oder Japanisch. Ich träumte nachts, dass ich in die Touristen vor meiner Tür Einschusslöcher bohrte. Da zog ich schleunigst weg.
Inzwischen gibt es am Oranienburger Tor längst keine Einschusslöcher mehr und keinen simplen Eckladen, das Tacheles ist verglast. Ich weiß gar nicht, woher die, die da noch leben, ihre Brötchen kriegen. Sie müssen wohl von Ironie und ihren Erinnerungen satt werden. Tante Emma jedenfalls hat ein T-Shirt-Geschäft, die Gegend ist Museum. Ich war hier! steht an der Wand. Ich hab es nicht geschrieben.
Stützstrümpfe
Ich wohne jetzt in einer vollkommen unangesagten Gegend. Ich schlafe nachts ruhig, draußen düsen die Möbelwagen vorbei, keiner hält, und niemand glotzt mich an, wenn ich auf die Straße gehe. - Sie können sich mein Entsetzen vorstellen, als ich letztens sowohl in einer japanischen als auch einer französischen Architekturzeitschrift mein Nebenhaus abgebildet fand! Noch hat es keiner mitbekommen. Noch dümpelt die Gegend bedeutungslos vor sich hin. Wie lange noch?
Noch gibt es einen Eckladen, in dem alle berlinern, und man das Wort waschecht nicht kennt, ein Laden, der nahezu rund um die Uhr offen ist. Am Fenster des Ladens steht: Erlesene Weine vom Winzer Spirituosen, aber das muss man nicht ernst nehmen. Spirituosen kommt hin, aber Wein trinkt hier niemand, erlesenen noch dazu; und dass einer das Wort Winzer in den Mund nimmt, braucht man auch nicht zu befürchten. Hier kostet die Flasche Bier einen Euro. Wenn ich abends noch mal Durst kriege, gehe ich hier her.
Kein Radio läuft, kein Fernseher stört. Es gibt einen Stehtisch. Um den steht man herum oder lehnt sich gegen die kleine Kühltruhe, in der Cornetto, Nogger und Magnum vor sich hin frieren, und schwatzt. Sitzen ist nicht, dafür hat das Geschäft keine Konzession. Trotzdem ist es geradezu gemütlich. Man kann rauchen, das gäb´s im angesagtesten Viertel von New York nicht. Man kennt sich.
"In Berlin ist immer irgend eine Ecke grade angesagt", erkläre ich, "man muss aufpassen welche, denn es ändert sich ständig, und nur die Hellsten kriegen rechtzeitig mit, wann sie wegziehen müssen!"
Die Runde guckt mich an, als käme ich aus dem Zoo. Den Blick kenne ich und halte ihn aus. Ich nippe an meinem Bier. Es ist neun. Alles schweigt.
"Ick hau denn ma´ ab", verkündet Rudi. "Mach ruhig, die Grenzen sind offen." Er nimmt sich noch eine Flasche Sternburg Pils aus dem Kasten, für später. Ingrid hinterm Verkaufstresen schreibt´s ihm an.
"Ick hab nämlich noch wat vor", sagt Rudi geheimnisvoll und stellt sich dann doch noch mal eben zur Runde dazu. "Wat willst du denn noch vorham?", fragt Holger, "ne Schürze oder wat?" Holger ist Gerüstbauer, und wenn jemand Fragen zur Arbeitslosenhilfe hat, Holger weiß Bescheid. Er ist Bluter, und seit einem Unfall hat er Thrombose. Wenn er in Partylaune ist, will er uns seine Stützstrümpfe zeigen, aber wir lehnen dankend ab. "Wenn ick besser zu Fuß wär, wär ick längst im Ausland", sagt er. Ronny, Steffen, Annegret und Holger, sie wohnen alle im Karree. Es ist ihr Haus, das in den Zeitschriften abgebildet ist. Ein berühmter Architekt hat es in den Zwanzigern gebaut: Bruno Taut.
Sandpapier
Taut hatte ein knappes, wechselvolles Leben. Er war Stadtbaurat in Magdeburg, 1924 wurde er Chefarchitekt bei der Berliner Wohnbaugesellschaft GEHAG, erlangte später eine Professur an der Technischen Hochschule. 1932 besuchte er Russland und ging 1933, zur Emigration gezwungen, nach Japan. Akira Kurosawa hat ein Drehbuch über ihn geschrieben, es ist, glaube ich, nie verfilmt worden. 1936 erhielt Taut einen Ruf als Professor an die Kunstakademie Istanbul, wo er, 49-jährig, am 24. Dezember 1938 starb.
"Eine Wohnung muss dem Menschen eine Hülle sein, sein Schutz, sein Gefäß der ersten und letzten Gedanken, Worte und Handlungen, sein Nest. Ganz anders wird die greifbare Form dieses Nestes, ganz anders, als die letzten 50 Jahre gartenlaubenhaft mit diesem Vergleiche gespielt haben. Nichts von sentimentaler Rührsamkeit, nichts von romantischem Idyll, nichts von Traumbetäubung, ebenso wenig wie in der Dynamo- und Schalthalle eines Kraftwerks, aber anders, und zwar gestaltet in Verbindung mit der Intimität des privatesten, eigensten, menschlichen Lebens; der Traum darin als Erweiterung innerer, noch nicht genügender Klarheit, das Gehäuse, die vier Wände so einfach, aber auch so wenig banal und schematisch in Farbe und Material, daß der Traum, der Gedanke der Zukunft, von ihm geweitet wird und es selbst wieder weitet."
Schreibt Bruno Taut. Er will die Menschen von Nippes und Unterdrückung gleichermaßen befreien. Beides gehört für ihn untrennbar zusammen. Wenn du deine Wohnung ausmistest, fällt dir eine Last von den Schultern.
"Det sollte ick vielleicht ma probieren", lacht Annegret. Ihre Stimme klingt nach Sandpapier, und wenn sie lacht, scheppert es. Sie ist eine kleine stämmige Frau, 61 Jahre alt, blond gefärbte kurze Haare, den ganzen Tag auf Achse, immer fröhlich. Früh um sieben holt sie den Hund ihrer Freundin ab, die dann auf Arbeit geht, ein großer zottiger Köter, und hängt Frau Laube, die im Nebenaufgang wohnt, Brötchen an die Tür. Mittags macht sie Essen für Frau Laube. Die Dame ist über 80, früher war sie an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Uni tätig.
"Das is´ ne ganz Feine, die isst nur Quetschkartoffeln", sagt Annegret. "Aber keine von Pfanni, das merkt die sofort. Manchmal kommt sie abends zum Fernsehen zu mir, aber dann will´se Oper gucken und so´n Zeug. Naja, da muss ich dann durch."
Jetzt geht Ronny pinkeln, gegenüber auf dem Schulhof. Annegret beschwert sich über diese Sauerei. Später verschwindet sie selber mal kurz.
"Ich hol uns mal allen noch´n Bier", sage ich und schreite zur Theke. "Für mich jetzt aber det letzte", ruft Rudi, "ick hab nämlich noch wat vor."
Butterklotz
Früher, zu Ostzeiten, war der Laden Spätverkaufsstelle, hatte also auch da schon am Wochenende auf und in der Woche bis zehn.
"Eine Million zweihunderttausend Mark Umsatz im Jahr", sagt Frau Weiß, die aus der Wohnung hinter dem Laden zu uns kommt, "damals, zu Ostzeiten. Da können Sie sich vorstellen, was wir gerackert haben!" Ehrlich gesagt: kann ich nicht, ich bin kein Verkäufer. Aber warum sollte ich ihr nicht glauben?
Frau Weiß ist eine sympathische, intelligente Frau. Sie war die Chefin. Vor sieben Jahren übernahm ihr Sohn. Es gibt drei Angestellte, alles Frauen. Frau Weiß, inzwischen 72, schlank und aufrecht, macht noch immer die Abrechnung, führt die Bücher. "Ich muss meinem Sohn doch helfen. Der muss jeden Tag die Ware holen, muss verkaufen." Frau Weiß will noch nicht aufgeben, was so lange ihr Leben war. Jeden dritten Tag geht sie zur Dialyse. "Vor uns hatte ein altes Ehepaar das Geschäft, aber die konnten dann nicht mehr. So haben wir 1985 den Laden übernommen. Die haben damals noch die Butter vom Klotz geschnitten und die Milch mit der Kelle aus der Kanne geschöpft."
Der Laden lebt von der Nähe zum Volkspark Friedrichshain. Im Sommer ist der Park proppevoll, alles sonnt sich und skatet und joggt. Sonne und Skaten und Joggen machen durstig. Wem die Elf-Tanke zu teuer ist, der hat über kurz oder lang diesen kleinen Eckladen entdeckt. Er öffnet früh um halb acht und schließt nachts um halb zwölf. 16 Stunden jeden Tag ein vertrauter Ort. Unter den Neonlampen an der Decke hängt, wie ein verirrtes, gestrandetes Mini-Luftschiff, eine aufgeblasene Plastik-Bifi-Wurst. Tja, wenn der kleine Hunger kommt. Oder der kleine Durst. Oder die Einsamkeit. Die Neonlampen jedenfalls leuchten, und die Kunden wissen wohin.
Bruno Taut entwarf ein H-förmiges Areal, das - an eine Reihe schon bestehender Häuser sich anfügend - nun einen geschlossenen und einen offenen Innenhof ergibt. Es bleibt formal ein Block, aber der Block ist offen, alle Fenster sehen die Straße. Am linken unteren Fuß des H ist der Laden. In dem offenen Hof führen alle Wege zusammen. Und richtig: Einmal sah ich an einem langen schmalen Tapeziertisch eine Gruppe junger Leute einen Sommerabend lang trinken. Ein andermal hatte einer nach einer Bootstour Zelt und Kanu zum Trocknen aufgestellt. Der Hof war plötzlich ein Inselufer, ein paar Schritte führten zum See, es fehlten lediglich Kinder und Indianergeheul, um das Abenteuer perfekt zu machen.
Es geht auf zehn, Ingrid verschließt die Tür. Kunden, die jetzt noch kommen, bedient sie durch das breite Schankfenster. Wir hier drin sind eine privilegierte Runde. Rudi ist übrigens immer noch da.
Erzkommunist
"Es muß ein Organismus erreicht werden", schreibt Taut, "der die absolut korrespondierende Hülle des heutigen Menschen in seinen fruchtbaren Eigenschaften ist. Die Fruchtbarkeit des Menschen, sein Schöpfertum, nicht bloß des Einzelnen, sondern gerade auch der Gesamtheit, liegt wie immer in der Umgestaltung der Dinge. Für diese Umgestaltung in unseren Tagen sind sichtbare Zeichen im Wesentlichen die Schöpfungen der Industrie. Sie haben unser Leben umgebildet und werden auch die Wohnung umbilden." Was für ein Vertrauen in den Fortschritt, und dass der den Menschen noch braucht! - Zwischen 1924 und 1931 projektierte und betreute Taut, Visionär der Neuen Sachlichkeit, in Berlin den Bau von rund 12.000 Wohnungen.
"Der hat in einem Jahr so viel gebaut wie wir in zehn", sagt Winfried Brenne, Chef des angesehenen Steglitzer Architekturbüros, das vor einigen Jahren die denkmalgerechte Rekonstruktion des Karrees leitete und dafür den Bauherrenpreis erhielt. Seither zeigen die 1926/27 errichteten Häuser wieder ihr ursprüngliches Gesicht: farbige Fassaden.
Brenne kannte Tauts Sohn - "ein Erzkommunist, ein wunderbarer Mensch!" - und sein Architekturbüro betreute schon zu DDR-Zeiten "auf zum Teil abenteuerliche Weise" Tauts Wohnhaus in Berlin-Dahlewitz.
"Licht, Luft und Sonne, raus mit den Leuten aus den Mietskasernen und Hinterhöfen, das war in den Zwanzigern das große Ziel." Taut, zunächst angefeindet und vor dem Ersten Weltkrieg wegen der Farbigkeit seiner Bauten noch für verhaftungswürdig erklärt, war später ein Liebling der Berliner, man kabbelte sich darum, in seine Häuser zu ziehen. "Könnte man sagen", frage ich vorsichtig, "seine Häuser waren angesagt?" Herr Brenne, der ein kulturvoller, charmanter Herr ist, lächelt: "So kann man das wohl nicht formulieren."
Trotzdem, wer hier wohnt, will hier nicht weg. Herr Akbulut von der Wohnungsbaugesellschaft GSW sagt: "Ich kenne keinen Mieter dort. Ich sehe sie beim Einzug, beim Auszug manchmal oder wenn einer Ärger macht. Aber dort zieht keiner aus, und niemand macht Randale."
Rudi schiebt endlich los. Ingrid schließt ihm auf. Draußen ist es kalt und nass. Der Wind schüttelt die Lindenbäumchen vorm Fenster, an dem das von dem Winzer und seinen Weinen steht; sie schwanken heftig, Wasser fällt aus ihrem Laub. Zerrissene Regenwolken kriechen am Himmel hin und schalten den Mond ein und aus. Rudi zieht den Kopf ein. Über ihm hasten ein paar verspätete Fledermäuse zur Jagd. Rudi und was er vielleicht noch vorhat, verschwinden im Dunkel.
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