Im Auto bis Kaliningrad und gleich wieder heraus. Heraus aus der Rush-hour der Neubaustadt in die Stille des Umlands. Durch die Scheiben unseres Wagens, die schmutzig sind von der langen Fahrt, ist eine neu errichtete orthodoxe Kirche zu sehen, noch halb hinter einem Bauzaun versteckt. Holzhäuser russischer Bauart, graue preußische Fassaden. Kurz-, Weiß- Wollwaren steht an einer noch geschrieben, sogar eine Telefonnummer, eine sehr kurze, nur drei Ziffern; die Straße aber heißt Ulitza Lenina.
Das also ist das alte Ostpreußen, jedenfalls ein Stück davon. Es ist die Umgebung von Königsberg, die heute Kaliningradskaja Oblast heißt. Im nächsten Ort tummeln sich Pferde auf der Straße. Die evangelische Kirche steht leer seit sie kein Getreidespeicher des Kolchos mehr ist, und die Uhr auf dem Marktplatz, die einst in drei Richtungen blickte, ist nur noch ein Gerippe. Ein Fahrrad klappert übers Katzenkopfpflaster. Ein alter Mann, die Sense geschultert, grüßt.
Ostpreußen, Land der dunklen Wälder und kristallenen Seen, ist abonniert auf Melancholie. Wer die hier sucht, findet die. Wer nur die sucht, findet nur die. Lange Winter, ein vergessener harter deutscher Dialekt, im Sommer himmelblaues Baltikum, Bernstein, Myriaden von Mücken und sommers wie winters: der Elch. Noch immer raunt mancher vom „Mythos Ostpreußen“ und es geht die Mär von Dornröschenschlaf und Wiedererweckung. Als seien hier wirklich alle Zeiger gefallen und alle Uhren ohne Zifferblatt. Oder wie der Historiker Andreas Kossert sagt: Eine Kulturlandschaft erlosch.
Dabei ist sie nur übermalt. Zweifach. Zuerst sowjetisch, jetzt post-sozialistisch. Im kleinen Stadtpark posiert Lenin mit abgeschlagener Nase, von einem Bretterzaun herab lacht ein McDonald’s-Clown, darunter steht bunt und auf Deutsch: Ich liebe es!
Diese Gegend war früher angesagt. Schon Thomas Mann wusste das. Im Ostseebad Rauschen, das heute Swetlogorsk heißt, beendete er seine Novelle „Mario und der Zauberer“, einige Kilometer nordöstlich, im einstigen Nidden auf der Kurischen Nehrung, jetzt schon Litauen, besaß die Familie ein Sommerhaus. Man reiste mit der Bahn an oder kam mit dem „Seedienst Ostpreußen“ her, die Reichsten nahmen sogar ihren Mercedes auf dem Schiff mit. Später sind bekanntermaßen Krieg und Leid, Flucht und Vertreibung über alle gekommen, ob einer Schuld auf sich geladen hatte oder nicht, das spielte dann keine Rolle mehr.
Die Zeiten jetzt und die Menschen sind andere. Der Badeort Rauschen/Swedlogorsk mit seinen von Platanen beschatteten Alleen, großen alten Villen, der Steilküste – „Sotschi des Nordens“ – hat den Krieg unbeschadet überstanden. Man kommt mit der Samlandbahn, die die Russen „Elektritschtka“ nennen, aus Kaliningrad. Jugendliche, die mit uns im Waggon sitzen, haben ihre Badesachen dabei. Sie packen ihre Butterbrote aus, die auch auf Russisch Butterbrote heißen. Wer heute hier ein Sommerhaus besitzt, nennt es Datscha. Am Strand stehen Betonreste vom Fundament eines Flakturms. Den haben nicht die Russen da hingesetzt…
Wenn der Arzt mit dem Hämmerchen aufs Knie klopft
Von Berlin kommend, waren wir zunächst bis Poznań gefahren. Als wir die polnische Universitätsstadt passierten, musste ich plötzlich an Günther Jauch denken. Letztens hatte der in seiner Millionärs-Sendung nach einer Stadt gefragt, die nur ein Buchstabe von dem Land unterscheidet, in dem sie liegt. Angegeben war unter anderem Polen, die Lösung Posen. Ich war zusammengezuckt. Hatte überlegt, ob und wie ich als Kandidat jetzt mit Deutschlands berühmtestem Oberlehrer ins Gericht ginge. Es gibt keine Stadt Posen in Polen, Herr Jauch, Sie kommen mehr als 60 Jahre zu spät. Es gibt Poznań, das in Polen liegt, und es gab Posen, das zeitweise in Deutschland lag, aber das ist sehr lange her. Oder gäbe ich die „richtige“ Antwort, wäre eine Runde weiter und nur noch fünf Fragen, zwei Joker und ein Glas Wasser entfernt von der Million? Mein stummes Gefecht hatte etwas Zwanghaftes, ich wusste das. Mein Zusammenzucken kam als Reflex. So als ob der Arzt mit dem Hämmerchen gegen das Knie klopft. Ich schlage aus. Ich bin so geprägt. Und ist Prägung nicht auch Profil?
Viele Deutsche reisten nach 1991, als die russische Exklave an der Ostsee Ausländern wieder zugänglich wurde, zu den Häusern ihrer Kindheit, an die Gräber ihrer Toten. Sie waren fixiert auf Erinnerung. Kamen in Bussen, durchschwärmten die Dörfer, suchten nach Gestrigem. Das ist vorüber. Einige, wenige kommen noch vorbei, die anderen haben das Kapitel abgeschlossen oder sind gestorben.
Nun bin auch ich hergekommen, zum wiederholten Mal, mache Fotos, die Videokamera läuft. Im Moment halten wir Ausschau nach einer Autowerkstatt, weil unser Auspuff seit ein paar Kilometern scheppert. In der Werkstatt prangt zwischen Langnese-Aufklebern und halbnackten Damen das Signet einer Möwe. Zeichen eines berühmten Luxusschlittens, der Tschaika. Das war einst eine edle Automarke und hohen sozialistischen Funktionären vorbehalten; ich glaube kaum, dass hier je so ein Wagen repariert wurde. Zwei Mechaniker schweißen. Ein Rekorder spielt Rammstein: Tiefe Wunden muss man graben, wenn man klares Wasser will, Rosenrot, oh Rosenrot.... Ich gehe hinaus auf die Dorfstraße. Es ist Mittag. Gegenüber ein Kindergarten. Die Kleinen, man sieht es durch die Fenster, stehen und waschen sich die Hände, das Wasser läuft aus schwarzen Plastikhähnen, wie ich sie selbst aus Kindertagen kenne, im Nebenzimmer tragen die Erzieherinnen Suppe auf, und noch ein Zimmer weiter stehen die Betten in Reih und Glied, bereit zum Mittagsschlaf.
Für mich hat die Fahrt hierher nichts mit Familie und Herkunft zu tun. Nicht einmal mit Ostpreußen, was mir – fast hätte ich gesagt – gestohlen bleiben kann. Trotzdem ist die Fahrt eine Rückreise. Hat eben doch mit Herkunft zu tun. Einer späteren. Es ist, wenn so etwas möglich ist, als stelle die Gegend eine Frage an mich. Noch weiß ich keine Antwort. Hab noch nicht einmal die Frage ganz verstanden … Unser Auspuff sitzt wieder, wir fahren weiter. Vorbei an einer brach liegenden Käserei. Die Lichtmasten am Straßenrand sind hohe Betonsäulen, die hat der Reichsmarschall Göring einst aufstellen lassen, damit er den Weg zu seinem Jagdhaus nicht verfehlt.
Mir fällt die Doppeldeutigkeit des Worts Bildbeschreibung ein. Das Gemalte in Worte fassen. Das Gemalte mit Worten überschreiben. Hier sind eine Landschaft und ihre Geschichte überschrieben worden. In anderer Sprache. In eine andere Sprache. Eine boomende Neubaustadt ohne Vergangenheit ist entstanden, Kaliningrad, umgeben von einem Umland, in dem man über Geschichte stolpert auf Schritt und Tritt. Aber wer sollte sich erinnern? Und warum?
Wenn ich zuhause mein Videomaterial zeige, dann befällt meine Freunde, die ostdeutschen, ein seliges Lächeln. Ich zeige ihnen das Swedlogorsker Kinderferienlager, es trägt den Namen Valentina Tereschkowa, 20 oder 30 Kinder schlafen jeweils in einem großen flachen Bungalow unter hohen Kiefern. Mädchen am Strand üben Gymnastik mit bunten Bändern, eine Bäuerin geht in ihrem langen Kleid ins Wasser, junge Burschen tragen schicke Nike-Badehosen. Man kann per Lift zum Strand hinab segeln. Dessen Zwei-Mann-Kabinen sind, wie vieles hier, in schönsten Kinderfarben gestrichen, mintgrün, himmelblau, rosarot. Es gibt auch einen Fahrstuhl, aber – wie ebenso vieles – ist er grade kaputt. Auf einer Freilichtbühne werden die Gewinner der Sportwettkämpfe ausgezeichnet. Ein Fahrradverleih, Biergärten, Rummel, eine Konditorei erwarten die Sommergäste. Abends macht man sich hübsch für einen Bummel auf dem Boulevard, geht in ein Zelt zum Tanz. Vorbei an einer Tribüne, vor der an jedem 9. Mai, zum Tag des Sieges, eine kleine Parade marschiert.
Nie war die DDR so russisch wie der Landstrich hier, natürlich nicht. Und dennoch ist mir, als reiste ich in ein Stück Vergangenheit. Meine eigene. Als gingen die Uhren hier langsamer, seien die Provisorien haltbarer, die Menschen geselliger. Der Russe, sagt ein Litauer böse, dem wir begegnen, sieht gern dem Verfall bei der Arbeit zu. Ich erwische mich dabei, wie ich mich innerlich zurücklehne und denke: Vielleicht ist das weise.
Ostpreußen will mich auf die Probe stellen
Und plötzlich verstehe ich die Frage, die sich mir die ganze Zeit schon stellt. Deutlich stand sie vor mir, aber erst jetzt kann ich sie lesen. Wie reise ich, der ich mich als Linker begreife, nach Ostpreußen? Die Fahrt, die Gegend, das Leben hier – alles scheint mich zu befragen, auf die Probe zu stellen. Meine Überzeugungen, meine Voreingenommenheiten, meine Position. Wie fahre ich als Linker nach Ostpreußen? Und wie kehre ich zurück?
Ich will nicht zu den Heimatrittern gehören. Nicht einmal zur Spezies des deutschen Touristen, wenn es ginge. Aber die Sprache verrät mich. Also verkneife ich mir wenigstens, Zensuren zu verteilen und das Land wie eine Brache in Augenschein zu nehmen: Was sich hier noch alles ändern muss! Ich spreche konsequent von Zelenogradsk, nicht vom Seebad Crantz, sage Sowjetsk statt Tilsit. Bis ich merke, dass es eben doch nicht die ganze Wahrheit ist. Und erwische mich bei jener anderen Sehnsucht, die meiner DDR-Vergangenheit geschuldet und natürlich auch eine Melancholie ist. Ich nehme mir vor, zukünftig mit Leuten, die sich an Gestrigem wärmen, weniger streng ins Gericht zu gehen.
Weiter läuft meine Videokamera. Ich filme: die Frauen. Sie sind es, scheint mir, die hier den Laden schmeißen, die anpacken, etwas wollen. Die überhaupt sprechen und sichtbar sind. Im Örtchen Bolschoje Isakowo wird der Dorfanger instand gesetzt. Initiiert durch eine Lehrerin der Schule. Das Dorfzentrum soll endlich wieder zu dem hübschen Ortskern werden, das er einmal war. Gemeinsam entrümpeln Kinder und Erwachsene den Teich, räumen Müll zwischen den Häusern fort, feiern ein Dorffest bei Fischsuppe und Tanz.
Oder im Dreiländereck Rominter Heide, am Wystiter See, wo Russische Exklave, Polen und Litauen aufeinander treffen. Das Gebiet ist Grenzland, Polizeikontrollen sind üblich. Während die Miliz Fahrzeuge stoppt, die zum Wochenendausflug an den See unterwegs sind, Fahrzeugpapiere und Pässe kontrolliert, sprechen Kinder, die am See wohnen, die Autofahrer darauf an, ob sie denn für ihren Abfall Müllsäcke dabei hätten. Sie schenken den Fahrern, die zunächst distanziert reagieren, sich aber vom Charme der Kinder fangen lassen, Mülltüten und bitten sie, gegebenenfalls auch den Abfall ihrer Nachbarn am See mitzunehmen. Ich filme die Kinder, die Polizisten, die Autofahrer.
Und plötzlich, merke ich, löst sich die Frage, die mich bedrängte, langsam auf. Nicht in Luft, nicht in Wohlgefallen. Aber doch in so etwas wie Gelassenheit.
Und bin zu Hause und erzähle. Plötzlich sagt meine Mutter: Weißt du eigentlich, dass mein Vater in Ostpreußen gestorben ist, in einem Ort namens Heiligenbeil. Den kenne ich, sagte ich, Mamonowo heißt der heute. Er ist benannt nach einem sowjetischen Offizier, der hier Anfang 1945 fiel. Zur gleichen Zeit also wie der Großvater. Den Großvater hatte man nach seinem letzten Weihnachtsurlaub zurück an die Front geflogen, da hieß der Ort noch Heiligenbeil und verfügte über einen „Fliegerhorst“. Am 12. Januar begann die sowjetische Großoffensive. Mein Großvater sei, schrieb man seiner Frau später, mit seinem Kübelwagen auf eine Mine gefahren…
Ostpreußen ist also doch ein Kapitel in meinem Familienroman.
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