Ganze 44 Kilometer fließt die Spree durch Berlin. Sie war und ist Schifffahrtsweg durch die Stadt, sie bot den Berlinern Badestellen, wurde begradigt und das Ufer mit Mauern befestigt. Nach dem 13. August 1961 ist sie teilweise Grenzfluss, eingezäunt, bewacht und blickdicht verschlossen, wie das Mauersegment der East Side Gallery noch heute beweist. In deren Nähe, am gegenüberliegenden Ufer, schubst am 13. September 1966 ein Kind seinen Spielgefährten in die Spree, den sechsjährigen Andreas Senk. Im Oktober 1972 stehen ein paar Jungs dort am Kai, füttern die Schwäne, einer verliert das Gleichgewicht und stürzt ins Wasser. Er heißt Cengaver Katrancı und ist acht Jahre alt. Im Mai 1973 rutscht Siegfried Kroboth, fünf Jahre, in den Fluss. Im Juni 1974 der sechsjährige Giuseppe Savoca. Am 11. Mai 1975 Çetin Mert. Immer kommt die Hilfe zu spät. Alle Kinder ertrinken. Der Fluss, auch wenn auf ihm Schwäne schwimmen, ist Teil der Grenzanlagen Berlins, und die Spree gehört an dieser Stelle in ganzer Breite zum Osten.
Der Wrangelkiez, wo die Unglücksfälle geschehen, gehört zum Stadtbezirk Kreuzberg. Weit mehr als die Hälfte seiner Bewohner sind Ausländer oder Einwanderer, vor allem aus der Türkei. Die Bevölkerungsdichte ist so hoch wie in Manhattan. Zum Osten hin begrenzt den Kiez das Gröbenufer. Hier führt die Oberbaumbrücke hinüber nach Friedrichshain. Sie wurde im Krieg beschädigt und kurz vor dessen Ende teilweise gesprengt. Über den Viadukt fuhr (und fährt heute wieder) eine U-Bahn-Linie. Doch 1975 dient die Bücke nur als Fußgängerpassage. Seit dem Mauerbau verriegelt, ist sie drei Jahre zuvor für einen „kleinen Grenzverkehr“ geöffnet worden. Man hat ein Kontrollgebäude ans Ostufer gestellt, und von der Brücke aus blicken Grenzsoldaten hinunter aufs Wasser und das Ufer auf beiden Seiten.
Befehlswege sind lang
Der 11. Mai 1975 ist ein Sonntag und Çetin Merts fünfter Geburtstag. Der türkische Junge darf mit den Nachbarskindern hinaus, die Familie will am Mittag zum Picknick. Çetin nimmt einen Ball mit zum Spielen, und er darf seine neuen weißen Turnschuhe tragen, die er gerade zum Geburtstag bekommen hat. Es ist später Vormittag.
Zur gleichen Zeit begeben sich am Ostufer der Spree zwei Grenzaufklärer (GAK) auf Beobachtungstour. Sie haben die Aufgabe, den Ostberliner grenznahen Raum „aufzuklären“. Sie streunen übers Gelände eines Altstofflagers. Das Posten-Pärchen hat freie Sicht nach drüben. Mit Feldstecher und Fotoapparat ausgerüstet, lautet ihr Auftrag: „Beobachtung des Westberliner Vorfeldes und Dokumentierung von Erscheinungen und Handlungen des Gegners auf Westberliner Gebiet“. Leider verfügen sie über kein Funkgerät. Denn um 12.27 Uhr – so genau halten sie das fest – sehen sie zwei spielende Kinder. Sie beobachten, wie ein Junge am „gegnerischen Ufer“ mit einem Stock hantiert. Als dem kleinen Çetin nämlich sein Ball die Böschung des Gröbenufers hinab und in die Spree rollt, versucht er, ihn aus dem Wasser zu fischen. Er beugt sich vor, rutscht aus – die GAKs fotografieren sogar den Moment, als Çetin ins Wasser fällt. Ohne Folgen. Denn sie haben ja kein Funkgerät und dürfen ihren Beobachtungsbereich nicht vor der anbefohlenen Zeit verlassen. Erst Stunden später werden sie ihre Meldung absetzen.
Westberliner Polizisten und Feuerwehrleute reagieren blitzschnell. Vier Minuten, nachdem der Kleine ins Wasser fiel, sind sie da. Nun, durch das Treiben auf der anderen Seite, wird man auch auf dem Postenturm an der Oberbaumbrücke aufmerksam. Man verzeichnet „größere Bewegungen von Kfz und Personen“. Es ist 12.35 Uhr. Die Grenzsoldaten erstatten Meldung. Aber Befehlswege sind lang. Die Westberliner Feuerwehrleute suchen vom Ufer aus mit einem langen Gestänge nach dem Kind, das nicht mehr auftaucht. Keiner wagt sich selbst hinein ins scharf bewachte Wasser. Ein Brandmeister läuft zur Grenzübergangsstelle und schlägt dort Alarm. Er bittet den Diensthabenden Offizier, seine Taucher einsetzen zu dürfen. Das wird abgelehnt. Stattdessen wird ein Grenzboot geschickt. Es trifft um 13.10 Uhr am Unglücksort ein. 40 Minuten sind inzwischen vergangen. Die Besatzung des Bootes erhält die Erlaubnis zum Tauchen und Bergen der Leiche. „Nach Vorbereitungshandlungen auf dem Boot“, wie es später im Bericht heißt, „wurde um 13.20 mit dem Tauchen und der Suche nach der Kindesleiche begonnen.“ Dass Çetin noch lebt, glaubt zu diesem Zeitpunkt niemand mehr.
Am westlichen Ufer haben sich indessen etwa 400 aufgebrachte und verzweifelte Menschen versammelt, die es nicht fassen können, dass so lange nichts unternommen wird und die eigenen Hilfskräfte nicht eingreifen dürfen. Ein Polizist, der ein solches Unglück hier nicht zum ersten Mal erlebt, fotografiert: die Grenzboote, die Taucher. Und schließlich – keine fünf Meter vom Ufer entfernt – das nasse, schwere, in den Armen eines Tauchers an Bord gehievte Kind, sein Kopf hängt weit nach hinten, die neuen weißen Turnschuhe scheinen zu leuchten. Es ist 14.10 Uhr. „Nach Bergung der Kindesleiche wurden die Grenzsicherungskräfte beschimpft“, notiert die Staatssicherheit, die von nun an das Kommando und die Nachbereitung des Falls übernimmt, „weil die Leiche nicht sofort nach Westberlin übergeben wurde“. Çetin kommt ins Gerichtsmedizinische Institut der Charité, erst Tage später wird er den Eltern übergeben.
Dann ertrank keiner mehr
Sein Tod sorgt, wie die Fälle zuvor, für Aufsehen. Die West-Zeitungen und der SFB berichten. Diesmal begehrt auch die türkische Gemeinde auf. Sie demonstriert und verteilt Flugblätter gegen die Mauer. Die Trauerfeier für Çetin wird zur Massendemonstration. Stasi ist verdeckt vor Ort und fotografiert. Der DDR muss das peinlich sein. Zumal auch Ankara einen Protest schickt. Erich Honecker will am 1. August zwischen Kanzler Helmut Schmidt und US-Präsident Gerald Ford in Helsinki medienwirksam und vor den Augen der Welt die KSZE-Schlussakte unterschreiben, in der sich die DDR unter anderem zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet. Da passt der Tod dieses Jungen nicht ins Konzept.
Es wird entschieden, fortan an jener Stelle der Spree ein Positionsboot einzusetzen und bei Unfällen „unverzüglich Hilfe zu leisten und erste Maßnahmen der Bergung einzuleiten“. Auch der Westen tut endlich das Notwendige. 14 Jahre lang hatte man bewusst auf eine Sicherung des Ufers verzichtet, selbst nach den ersten Todesfällen war nichts geschehen. Man wollte auf keinen Fall in den Geruch kommen, selbst die Grenze nach dem Osten hin dicht zu machen. Vor allem aber sollten es ostdeutsche Flüchtlinge leicht haben, falls sie hier durchs Wasser schwammen, an Land zu kommen. Jetzt werden die Durchgänge zur Böschung geschlossen, und vor der Kaimauer ist ein Maschendrahtzaun gezogen.
Und es kommen die Ost-West-Verhandlungen über Erste-Hilfe-Maßnahmen im Bereich der Sektorengrenze voran. Mehr als zwei Jahren laufen sie schon ohne Ergebnis. Die DDR-Seite hat 1973 einen Vertrag vorgelegt, der die Sektorengrenze als Staatsgrenze bezeichnet, was dem Senat wegen des Viermächte-Status Berlins nicht passt. Es müssen noch Guiseppe und Çetin ertrinken, bevor Scheuklappen beiseite gelegt werden, und im Oktober 1975 ein Abkommen über Rettungsmaßnahmen bei Unglücksfällen in den Berliner Grenzgewässern zur Unterschrift vorliegt. Danach ertrank kein einziges Kind mehr in der Spree, nur weil es spielte und der Fluss die Grenze war.
Karsten Laske ist Filmregisseur und Drehbuchautor
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