Kolonialismus-Aufarbeitung: Über eine moderne Spielart der Missionierung
Essay Die kolonialen Verbrechen der Deutschen werden im öffentlichen Diskurs eher verklärt bis ignoriert. Zu einer Aufarbeitung trägt die kollektive Erinnerungsverweigerung jedenfalls nicht bei. Der Postkolonialismus hat aber auch seine Tücken
Als Kolonialisten waren die Deutschen nicht weniger grausam als andere. Bild: Deutsch-Südwestafrika, 1910er Jahre
Foto: Häckel Archiv/Ullstein
Kann mir jemand erklären, warum Postfaschisten zu den Bösen gehören und Postkolonialisten zu den Guten? Mir erscheint das unlogisch. Ich wohne in Berlin nahe dem Kaiserdamm; von dort kann man die Siegessäule sehen, die Heerstraße ist nicht weit, im Tiergarten stehen die Statuen früherer Mächtiger, die legal und mit dem Segen der Kirche ihre Angriffskriege führten, die nur noch nicht so empört hießen, weil sie normal waren.
Ohne diese Kriege hätte es keine Nationen gegeben. Auch das nach 1945 geschrumpfte Deutschland ist gegründet auf den Gräbern unzähliger Soldaten aus vielen Jahrhunderten. Aber „das Vergangene ist nicht tot“, schrieb der US-amerikanische Autor William Faulkner, „es ist nicht einmal verg
inmal vergangen“, geschrieben zu einer Zeit, als das N-Wort unbehelligt verwendet wurde. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist eine Ruine, die zum Frieden mahnt – doch der Name würdigt weiter ihren Erbauer Kaiser Wilhelm II., der sie wiederum, in der stinkenden Blüte deutscher Kolonialzeit Ende des 19. Jahrhunderts, zu Ehren seines Großvaters Wilhelm I. errichten ließ. Herrscher ehren Herrscher, Sieger gedenken der Sieger. Und die Kirchen gedenken und predigen eng an ihrer Seite.Und was ist mit den Opfern?Im Arbeitszimmer meines Vaters hängen Speere aus dem südlichen Afrika an der Wand. Meine Stiefuroma hat sie mitgebracht. Sie war dort geboren worden, verlebte ihre Jugend im heutigen Simbabwe, damals Südrhodesien, mit sechs Schwestern und zwei Brüdern, „auf einer der schönen, großen Farmen meines Vaters“. In Aufzeichnungen, die um 1960 angefertigt wurden, erinnert sie sich daran. Außer den gefährlichen Schlangen war alles „einfach wunderbar“, „unbeschreiblich herrlich und sorgenlos“. Vor allem Weihnachten, „die schönste, aufregendste Zeit“: „Die Eingeborenen bekamen ihre Geschenke und verschwanden strahlend und dankbar.“ Einmal gab es sogar „ein entzückendes kleines viersitziges Wägelchen mit zwei großen wunderschön gepflegten Angoraziegen. Hinten am Wagen war ein kleiner erhöhter Sitz, dort saß schon stolz ein kleiner Boy, der die Zügel hielt. Unsere Freude war unbeschreiblich groß!“ Der „Boy“ war der Diener der Mädchen, „er musste immer die Pforten öffnen“.Die „Eingeborenen“ seien keine Sklaven gewesen, sagt mein Vater, ihre Behandlung humaner als in den Südstaaten der USA, aber vollwertige Menschen waren die Schwarzen für die europäischen Farmer nicht. Das sei zwar rassistisch gewesen, aber anders als der heutige Rassismus. Ich höre oder will hören: irgendwie nicht so schlimm. Gern hielte ich weiter an dem Glauben fest, dass wir Deutschen wenigstens als Kolonialisten weniger grausam waren als andere.Auch die Missionare fanden sich nicht schlimm, im Gegenteil, sie handelten im göttlichen Auftrag. Sie wollten das, was sie unter Zivilisation verstanden, in die von deutschen Soldaten besetzten und von deutschen Unternehmern ausgebeuteten Länder bringen. Für einen Christen muss das dennoch ein Zwiespalt gewesen sein, waren nicht auch damals vor Gott alle Menschen gleich, geschaffen nach seinem Ebenbild? Wie konnten sie Menschenraub, Landraub, Kulturraub rechtfertigen? Mit Matthäus? „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). Mit dem Apostel Paulus? „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet“ (Röm 13,1)? Mit Luthers Lehre von den zwei Reichen ließ sich auch später, im von der Kaiserzeit mental vorbereiteten „Dritten Reich“, balancieren zwischen dem untertänigen Gehorsam und der Freiheit eines Christenmenschen.Frohe Botschaft, organisierte GewaltBeseelt von einem Überlegenheitsgefühl, folgten vor allem Handwerker dem Missionsbefehl: Gehet hin! Sie mussten mit ansehen, wie zwischen 1904 und 1908 im heutigen Namibia, dem damaligen Deutsch-Südwestafrika, 80.000 OvaHerero und Nama ermordet wurden. In Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, kamen bis zu 300.000 Menschen beim Maji-Maji-Aufstand im August 1905 um. Mit der frohen Botschaft brachten die Missionare die militärisch organisierte Gewalt mit. Sie bauten nicht nur Schulen, sondern installierten auch das protestantische Arbeitsethos. Beschützt von den sogenannten Schutztruppen der Kolonialherren, verstrickten sie sich in deren Kriege. „Durch die theologische Rechtfertigung von imperialem Machtanspruch und kolonialer Herrschaft“, heißt es im EKD-Schuldbekenntnis von 2017, haben die deutschen Landeskirchen „den Boden für den Tod vieler tausender Angehöriger der namibischen Volksgruppen mit vorbereitet“. Ein schönes Papier, aber was bewirkt es praktisch?Die Verklärung soldatischer Männlichkeit mit deren Begriff von „Ruhm“ treibt bis heute ihr Unwesen. Im Hamburger Michel hängt eine Gedenktafel: Die deutschen Soldaten in den Kolonien „starben für Kaiser und Reich“. Auch in der Cottbuser Oberkirche befindet sich eine koloniale Tafel – „Ehre ihrem Andenken“. Verheldungen von Kriegs-„Gefallenen“ gibt es in oder vor unzähligen Kirchen. Ein Gedenken an die nichtdeutschen Opfer – oder gar die christlich getauften jüdischen Menschen, die, zum Teil mit Hilfe ihrer christlichen Brüder und Schwestern, in den KZ umkamen – scheint nicht vorgesehen. Für die afrikanischen Opfer sei Namibia zuständig, hört man hier und da von Pfarrern, nicht die Kirche. Manche Theologen sehen das anders, aber andere gehen so weit, zu behaupten, die Kolonialherren hätten die dortigen „Stammesfehden“ befriedet, indem sie sich jeweils auf eine Seite schlugen und für „Ordnung“ sorgten.Vermutlich sprechen sie damit die Haltung vieler Gemeindemitglieder im Jahr 2023 aus. Die Kolonialzeit wabert ignoriert bis verklärt in unseren deutschen Köpfen. Nach 1945 war ohnehin keine Zeit für Auseinandersetzung – die Christenhirten war beschäftigt mit der Selbststilisierung als Widerstandskirche und einer passiv-aggressiven Verdrängungspolitik im Einsatz für nationalprotestantische NS-Täter in den eigenen Reihen. Dass das Toten-Gedenken von den Herrschern aller Zeiten instrumentalisiert und im Namen von „Ehre“ und „Nation“ missbraucht wurde als Propaganda des Krieges, wollen nur wenige wahrhaben. So wird die todverherrlichende Ideologie nolens volens reproduziert. Da hilft es auch nichts, ist es vielleicht gar kontraproduktiv, einzelne Wörter und Personen als „problematisch“ oder „umstritten“ aus dem öffentlich-rechtlichen Diskurs herauszufiltern.Der Rassismus sitzt fest in der kollektiven Erinnerungsverweigerung, auch wenn der N-Kuss jetzt Schokokuss heißt. Bei manchen zeigt sich ein gewisser Trotz in der Weiterverwendung des N-Worts. „Ich bin kein Rassist“, heißt es dann mit derselben Vehemenz, mit der die sich als postkolonialistisch Verstehenden mit dem Finger auf andere zeigen, als könnten sie so sicher sein, selbst frei von jedweder Menschenfeindlichkeit zu sein. Aber so ist es natürlich nicht. Sind nicht auch sie nur zufällig in ein Milieu oder einen Zeitgeist hineingeboren, in dem AfD-Sprech verpönt ist?Scham- und Schuldgedöns?Ich fühle mich hin- und hergerissen. Von einem gewissen akademisch gebildeten Milieu aus und mit heutiger Sicht sagen sich manche Dinge leicht. Angesichts der Hypermoralisierung und Infragestellung vieler Lebensbereiche kann ich das Bedürfnis nachvollziehen, nicht auch noch ganz Preußen auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Darf man, frage ich mich unwillig, nicht einfach eine Gedenktafel an tote Deutsche erinnern lassen? Ohne all das Scham- und Schuldgedöns drumherum? Muss ich mich ständig schämen, eine Deutsche zu sein – immerhin war es nicht meine Entscheidung. Flapsig gesprochen: Können die mich alle nicht mal endlich in Ruhe lassen?Aber dann stelle ich mir vor, wie es für mich wäre, wenn ich keine rein biodeutsche Familiengeschichte hätte, zurückverfolgbar bis ins 16. Jahrhundert. Wenn ich zum Beispiel von Eingewanderten abstammen würde. Wenn meine Haut dunkler wäre. Wenn ich ständig erklären müsste, dass ich deutsch bin, dass ich dazugehöre, obwohl ich nicht so aussehe. Wenn meine Zugehörigkeit zu diesem Land und Volk unter stetem Vorbehalt stünde. Weil meine Vorfahren Sklaven oder Beherrschte in den Kolonien waren, ohne dass ich wüsste, wie sie hießen, was sie dachten, wo sie verscharrt wurden. Nicht mal die genauen Zahlen der Massaker sind bekannt. Und dann ginge ich, mit meiner dunklen Haut, in die blendend weiße deutsche Kirche und sähe, wie darin mit Hingabe und nur scheinbar neutral der weißen Täter gedacht wird, während meine Leute nicht mal erwähnt werden.Nein, ich kann mich nicht aus der Affäre ziehen, so verführerisch das wäre. Was vergangen ist und doch nicht vergehen will, lastet auf mir. Bevor eine tragfähige Ablage gefunden ist, lässt es sich nicht abstreifen. „Keine Lust auf Schuldgefühle“ reicht als Haltung nicht, auch wenn mir, gewissermaßen durch Weglassen, beigebracht wurde, dass die NS-Zeit Grund genug ist für die deutsche Selbstgeißelung. In der Schule kam die Kolonialzeit kaum vor, auch nicht bei meinen Kindern. Holocaust? Ohne Ende. Auch ein bisschen Bismarck. Aber Kolonialismusverbrechen? Ich erinnere mich nicht. Dabei könnte man die nationalprotestantisch verherrlichten Gräueltaten in den deutschen Kolonien als Vorübung zum millionenfachen Völkermord der Nationalsozialisten betrachten.Andererseits verfehlt eine moderne Spielart der Missionierung durch heutige Postkolonialisten mitunter ihr Ziel. Da werfen manche alles in einen giftigen Topf, den bösen Rassismus, den grausamen Kolonialismus, den üblen Antisemitismus, natürlich auch noch die menschenverachtende Homo- und Transphobie, heizen mit glühendem Moralismus ein, rühren kräftig um und schütten das schlimme Kind mit dem Bade aus, indem sie ein neues Schwarz-Weiß-Denken zur antirassistischen Bürgerpflicht erklären. Meine eher schlicht gestrickte Stiefuroma würde posthum zur schlimmen Menschenfeindin erklärt.Geschichtliche Schuld lässt sich aber nicht abwaschen, nicht durch Umbenennungen oder Friedenszentren ausmerzen. Wir deutschen Protestanten bleiben, auch wenn wir aus der Kirche austreten und noch so viel kontextualisieren, im Boot. Damit die Vergangenheit tatsächlich vergangen sein kann, braucht es Grau- und Zwischentöne. Beim Umgang mit kolonialen Zeugnissen sollte es deshalb nicht so laufen wie leider oft mit postkolonialen Sprachregelungen: dass eine sich als wahrheitsinhabend begreifende Elite den weniger Erleuchteten erklärt, wie sie zu sprechen und zu gedenken haben.Placeholder authorbio-1