Du darfst kein Opfer sein

Parallelwelt Christian Stahls „In den Gangs von Neukölln“ ist ein Plädoyer für eine radikal andere Integrationspolitik
Ausgabe 41/2014
Die Bilder dieses Spezials sind Arbeiten des Streetfotografen Siegfried Hansen
Die Bilder dieses Spezials sind Arbeiten des Streetfotografen Siegfried Hansen

Foto: Siegfried Hansen

Offiziell gibt es im Berliner Stadtteil Neukölln 99 Intensivstraftäter mit migrantischem Hintergrund, und egal jetzt, wem man den schwarzen Peter zuschiebt, dass er das Problem nicht in den Griff kriegt, man kann zuerst die Familiengeschichte des „schönen Rütli-Gangsters“ erzählen: Yehyas Vater Rached E. wurde 1955 im libanesischen Flüchtlingslager Schatila geboren. Mit 13 heuerte er bei der PLO an. Yehyas Großmutter pfiff ihn, da waren die Haare schon für den Kampf rasiert, höchstpersönlich zurück. Wie schon sein Vater ging Rached als Gastarbeiter in arabische Nachbarländer, arbeitete sich zum Bauleiter hoch. Das Massaker von 1982 (von den Vereinten Nationen als Genozid gewertet) tötete Verwandte und Freunde, zerstörte alles, was die Familie sich aufgebaut hatte. 1986 tobte der Krieg erneut, das Haus wurde abermals zerstört, das Vermögen vernichtet. Mit dem letzten Geld organisierte Rached 1990 die Flucht der Familie nach Berlin, im Gepäck sein Sohn Yehya.

Klar, man weiß es, wie selektiv wir solche Geschichten aufnehmen, wie abstrakt sie für uns im Grunde bleiben, und wie viel eher Schlagzeilen wie die vom „schönen Rütli-Gangster“ hängenbleiben. Nicht nur die Empathieforschung hätte hier etwas beizutragen. Sicher ist: Die Flüchtlingsproblematik ist eine größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, um es in einer Politikfloskel zu formulieren. Und „Yehya E.“ ist einfach auch ein krasses Produkt jahrelang verfehlter Asylpolitik. Die Flüchtlingsbiografie sei deshalb nur ein Teil der Geschichte, betont Christian Stahl; Yehyas Geschichte, so wie er sie in seinem Buch erzählen will, sei vor allem auch eine deutsche Geschichte.

Steigen wir also hier ein: Der Junge geht inzwischen in die erste Klasse im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Es gibt hier nicht viele Jungen wie ihm. Einmal fragt die Lehrerin die Kinder, welchen Beruf die Eltern haben. Yehya weiß nichts zu antworten, der Vater ist mit einem Arbeitsverbot belegt, 13 Jahre lang. Die Lehrerin mahnt, der Vater nehme den anderen das Geld weg. Der Vater beschwert sich, die Lehrerin befindet, er solle erst mal Deutsch lernen. Es sind die 90er Jahre, Yehyas Mutter ist Muslima und trägt ein Kopftuch, sie wird rassistisch angepöbelt. Die Familie zieht nach Neukölln, es ist die „zweite Flucht“.

Perfide Duldungspraktik

Mit sieben zündet Yehya eine Hütte an. Mit 13 wird er als Jüngster überhaupt in der Berliner Intensivstraftäterkartei aufgenommen, zu diesem Zeitpunkt sind bei ihm über 50 Straftaten registriert, er „hat“ einen eigenen Staatsanwalt. Er tritt seine Opfer. Und da gibt es den anderen Yehya, dem Christian Stahl im gemeinsamen Hausflur begegnet. Er ist ein höflicher Kerl, der dem Deutschen die Wasserkästen nach oben trägt. Mit 16 fliegt er von der einst berüchtigten Rütlischule (heute Vorzeigeprojekt), weil er eine Art Mobbingsystem etablierte, gute Noten hatte er allerdings geschrieben. 2007 dann der Raubüberfall auf ein Ehepaar in Hamburg, Verurteilung zu drei Jahren Haft, später Verlegung nach Plötzensee, ins Haus 2, das „Mörderhaus“, ein kleiner Racheakt der Justiz, dem „Heuchler“, der sich schon wieder ein Erpressungssystem aufgebaut hatte, auf diese Weise Reue einzubläuen. In Neukölln wird man empfohlen haben: Im Mörderhaus darfst du erst recht kein Opfer sein!

Die Bilder des Spezials

Was für viele Menschen nur ein Brückenpfeiler ist, ein Rohr aus Stahl oder ein Riss im Beton, ist für Siegfried Hansen ein Motiv.

Hansen, geboren 1961 in der Nähe von Hamburg, gehört zu den bekanntesten Streetfotografen der Welt. Seine Arbeiten sind vielfach präsentiert in Gruppen- und Einzelausstellungen, nicht nur in Europa, auch in den Vereinigten Staaten kennt man sie.

Die Sujets findet der Fotograf auf Streifzügen durch deutsche Großstädte. Schatten, Ausschnitte, Linien, Farben – im Zentrum von Hansens Kunst stehen der urbane Kosmos und die Ästhetik des Zufalls.

Menschen, Gesichter, vorbeilaufende Passanten werden zu Statisten im Raum. Dabei bestechen Siegfried Hansens Bilder durch ihre Mischung aus Intuition und dem Vermögen, das nächste Motiv vorherzusehen.

siegfried-hansen.de

Niemand muss kriminell werden, weil er ein Flüchtlingskind ist. Auch das betont Christian Stahl in seinem Buch. Aber es gibt Faktoren, die die Kriminalität begünstigen, meint er. Vielen Flüchtlingsfamilien wird jahrzehntelang mit Abschiebung gedroht, eine perfide Duldungspraktik, der manchmal perfide Ermessensspielraum eines einzelnen Beamten machen das möglich. Besonders staatenlose Flüchtlinge hätten wenig Rechte, straffällig Gewordene fast keine. Auf einem Duldungspass steht üblicherweise in Großbuchstaben: KEIN AUFENTHALTSTITEL! DER INHABER IST AUSREISEPFLICHTIG. Man muss sich das bildlich vorstellen. Von der Ausreise trennt den Stigmatisierten nur, dass die Behörde noch keinen Weg gefunden hat, ihn abzuschieben. Denn die sogenannten Heimatländer weigern sich ihrerseits oft, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Sie kommen aus Ländern, in denen der Bürgerkrieg vielleicht noch tobt. In Deutschland existieren sie in einem Vakuum. Und während die traumatisierten Eltern dankbar sind, dem Krieg entkommen zu sein, lernen die arabischen Jungs von klein auf, sich zu verteidigen, niemals ein Opfer zu sein.

Eigentlich wollte Christian Stahl ein Buch über den Aussteiger Yehya schreiben. Daraus wurde nichts. In diesem Jahr hat man den inzwischen 23-Jährigen im Kriminalgericht Moabit wegen drei neuerlichen Raubüberfallen zu sechs Jahren Haft verurteilt. Stahl ist ratlos. Über zehn Jahre hat er Yehya begleitet, auf der Straße, in die Shishabars und Muckibuden, 2011 wurde seine Dokumentation Gangsterläufer mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet. Ob er zu naiv gewesen sei, fragt er sich selbstkritisch. Vielleicht. Aber er will ja nichts beschönigen, will nur verstehen: die (für unsereins) komplett befremdlichen archaischen Gesetze der Straße, die Mannesehre, diesen irren Gangkodex, die Wut. Von einem härteren Jugendstrafrecht hält er aber nichts. Seine beharrliche Frage lautet: Warum? Darum? „Sie steckte in ihm drin. Die Wut. Die Lust auf den Kick. Die kriminelle Energie. Kriminalität ist keine Krankheit, die man so eben heilen kann. So wie ich Yehya kennengelernt habe, wirkt sie eher wie eine Droge (...), auf den Straßen von Neukölln sind alle auf dieser Droge.“ Der Neurobiologe und Psychotherapheut Joachim Bauer schreibt in einem Buch: „Unser Gehirn bewertet Ausgrenzung und Demütigungen wie körperlichen Schmerz und reagiert deshalb auch darauf mit Aggression.“ Können Psychologen helfen?

In der Szene ein Verräter

„Ich wollte clean werden“, sagt Yehya im Film Gangsterläufer an einer Stelle. Aber der unverhoffte Kinostar, Held bei Politik und Polizei, galt in der Szene als Verräter. Was ihn dort adelte, waren die fetten Haftstrafen. Eine zerrissene Identität. Yehya ist reflektiert, er gibt zu, dass er den Auslöser für den Rückfall geradezu gesucht hat. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass bei den letzten Coups keine Gewalt im Spiel war. Der Neuköllner Migrationsbeauftragte Arnold Mengelkoch sagt: „Das Drama für straffällig gewordene Palästinenser, für Staatenlose ist, dass der Staat sich so unversöhnlich verhält, obwohl die Leute ja erst hier straffällig geworden sind.“ Also: Psychologen können schon helfen, vor allem aber hälfe eine Änderung des Asylrechts. Fakt ist: Der Krieg in Syrien und Irak, die Flüchtlingswellen aus Afrika werden uns zum Handeln zwingen. Gefragt sind Realitätssinn und offene Herzen.

Einmal spielt Christian Stahl durch, wie Yehyas Leben anders hätte verlaufen können. Wenn seine Familie im Deutschland nach der Wende willkommen geheißen worden wäre, wenn Yehyas Vater sofort eine Arbeitserlaubnis erhalten hätte. Wie es gewesen wäre, wenn die Lehrerin Yehya nicht beschimpft hätte, wenn Yehya an Klassenfahrten hätte teilnehmen dürfen. Wenn seine Mutter nicht wegen ihres Kopftuchs angepöbelt worden wäre, damals als die Terrorzelle NSU entstanden sein muss. Wenn man ihm das Abitur erlaubt hätte. Wenn auf der Ausländerbehörde Frau Müller zu Frau Schmitz nicht herübergelacht hätte: „Ha, ha, der Araber hier fühlt sich als Deutscher.“ Hätte. Wenn. Als Stahl im Gericht ein flammendes Plädoyer für den Angeklagten hält, ruft die Gang: „Du bist der King, du bist ein Mörder!“ Mörder, das ist ein Kompliment in Neukölln.

In den Gangs von Neukölln. Das Leben des Yehya E. Christian Stahl Hoffmann und Campe 2014, 246 S., 17,99 €

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