„Geheimnis der Rückkehr“ von Stephan Wackwitz: Lehrjahre des Herzens
Kosmopolit Ein Vierteljahrhundert lebte der Schriftsteller Stephan Wackwitz im Ausland. Wie das seinen Blick auf Deutschland veränderte und wie er vom schüchternen Jungmarxisten zum Liberalen wurde, erzählt er in seinem Buch "Geheimnis der Rückkehr"
Vor dem Goethe House an der altehrwürdigen Adresse bis 2009: 1014 Fifth Avenue, New York
Foto: Karin Kohlberg/Goethe-Institut/dapd
"Im Jahr 1981 hatte sich ein zwar nicht dummer oder unsensibler, aber linksradikaler und neurotisch verschüchterter junger Mann dringlich gesehnt nach einem ihm noch unbekannten Repertoire ,alternativer Beschreibungen‘“, schreibt Stephan Wackwitz zu Beginn seines autobiografischen Essays. Der 1952 in Stuttgart Geborene fühlt mehr diffus die philosophischen und mentalen Leerstellen im Deutschland der 1980er Jahre, eine spezielle Zumutung muss die „eigentümliche Atmosphäre aus Modernität und Neurose“ im pietistischen Schwabenland gewesen sein. Inspiriert von den Lektüren Walter Benjamins oder von Peter Handke, sucht der Lehramtsstudent zudem nach „Versionen seiner Selbst“. Und so wie John Updike, schreibt der Autor, habe er 19
1981 „innerlich“ längst schon in New York gelebt.Zum Mut dafür, die gesicherte Beamtenstellung auszuschlagen, verhilft ihm eine Offenbarung, ausgelöst zuerst durch eine „cannabisinduzierte Panikattacke“, die bei einem Psychoanalytiker herausgearbeitet wird. Es ist eine Begegnung, die sich als lebens- und wesensverändernd erweist, wie der Autor sie während seiner Lehrjahre des Herzens immer wieder erleben wird, etwa als er den britischen Kunstkritiker, Maler und Filmemacher John Berger (1926 – 2017) trifft, der sein erster Mentor auf seinem Weg zum Schriftsteller werden wird. Oder im Jahr 1999, als er Bekanntschaft mit ehemaligen Dissidenten im polnischen Krakau macht, deren Habitus, eine Mischung aus „Komik, Würde, Selbstironie und Wurstigkeit“, der Autor zu lieben lernt, genauso wie zuvor die „interessante Subjektivität“, das „Idiosynkratische“, die unkaputtbare Ironielust der Briten.Eine „heroische Auswanderer-Reise“ von Stephan WackwitzCharakterbildend für den Autor wird der emeritierte Professor für christliche Literatur Ulrich Simon, den er in der Cafeteria am Londoner King’s College kennenlernt, wo er zunächst eine Stelle als Dozent annimmt. Simon, dessen gesamte Familie von den Nazis ermordet wurde, habe sich den „Berliner Stil des deutsch-jüdischen Bildungsadels" der 1920er konserviert, von ihm sei eine unnachahmliche „Sprezzatura“ ausgegangen. Als Student und Jungmarxist kannte Wackwitz, der zu Hölderlin promoviert hat, bislang die „Sprachen des Ernstes“, wie der Kulturkritiker Karl Heinz Bohrer sie nannte, auf seinen „sieben Weltreisen“ lernt er andere kennen.Es war keine „heroische Auswanderer-Reise“, bekennt Wackwitz freimütig, sein Traum hatte sich ganz profan mit einer Anstellung im öffentlichen Dienst realisiert, beim Goethe-Institut, und eventuell wurde sein Einstieg erleichtert, weil schon der Vater für das Goethe-Institut gearbeitet hatte. Die Stationen: Japan, Polen, Slowakei und USA, Georgien und Belarus. Und obwohl so manche Station als Verbannung interpretiert werden muss, erlebt Wackwitz gerade dort, zum Beispiel in Krakau oder Bratislava, lebendige, inspirierende Zeiten.Wackwitz’ Buch erzählt ganz nebenbei auch vom Bedeutungs- und Freiheitsverlust der Goethe-Institute, in einer Anekdote erfährt man, wie er sich von Helmut Kohl persönlich bei einem Glas Wein dahingehend über den Tisch ziehen ließ.Epiphanie im fernen KaukasusLeben und Lektüre führen zu Epiphanien, produktiver Melancholie oder „interessanter Subjektivität“ und damit zu Texten, die über die Jahre in deutschen Zeitungen gerne gedruckt werden. Das vorliegende Buch enthält Passagen mit überarbeiteten Artikeln, klärt das Nachwort auf. Gerade der zeitversetzte Rückblick macht den zurückgelehnten Charme des Buches aus, in dem sich immer wieder Kreise kunstvoll schließen. Etwa wenn uns Michel de Montaigne begegnet, der dem Autor zum Vorbild für sein Schreiben wird und dessen Studierzimmer, das „Studiolo“, an jedem Ort zu einem existenziellen Bedürfnis. Oder wenn Wackwitz erkennt, dass er dieses Bedürfnis schon als Dreijähriger hatte, ohne es zu wissen, als er sich in die einsiedlerischere Hütte des Pierre Bear träumte (bitte ohne die Gemahlin!), eines pädagogisch wertvollen Bären aus einem amerikanischen Kinderbuch, das ihm die elegante, stilbildende Mutter einst geschenkt hatte.Noch so eine Lebenslektüre: Richard Rorty und dessen Ideen zu Liberalismus und Pragmatismus. Finale Überzeugungen sind für den amerikanischen Philososophen spätestens seit 1989 nur „Werkzeuge“ für das Leben. Man solle sich durchringen, „die Tatsache zu akzeptieren, dass keine Theorie (...) je Nietzsche und Marx oder Heidegger und Habermas zur Synthese bringen wird“. Mit Rorty entwickelt sich Wackwitz endgültig zum liberalen, pragmatischen Ironiker. Jahre später, 2015, in Deutschland dann erste Risse im Selbstverständnis des Auswanderers. Es kollidiert mit der neuen Polarisiertheit der Welt. Ist seine Zeitgenossenschaft noch gefragt?Viele männliche Leser werden sich in diesen Buch wiederfinden. Denn so viel ist typisch für die Generation des Autors. Die obligatorische Handke-Lektüre, das tiefernste Faible für marxistisch-leninistische Theorien, die Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie und ihren „Letztbegründungen“, der Kampf mit den dunklen Dämonen oder „Riesen“ der Ur-Familie. Sie werden sich bei der Lektüre wie die vielen Montaigne-Fans fragen: Woher weiß er das über mich?Das Glück, schreibt Wackwitz, wird in Lars Gustafssons Die Tennisspieler trefflich als etwas beschrieben, das „immer erst nach den Ereignissen entsteht, die wir mit ihm verbinden, und dass wir es in der Gegenwart eigentlich nie wirklich zu fassen bekommen“. Ausgerechnet der Sehnsuchtsort New York, wohin es den Autor von 2007 bis 2011 verschlägt, wird als Enttäuschung erlebt, sehr lesenswert ist das Kapitel allemal. Angst ergreift den Autor, als er bei der neuen Dienststelle ankommt. Die glamourösen Nachkriegszeiten in 1014 Fifth Avenue sind vorbei. Als neuer Institutsleiter soll Wackwitz die Dependance aus dem Tiefschlaf holen, was einigermaßen gelingt, und doch fühlt er sich fremd, wie in einer zeitgenössischen Variante der Turmgesellschaft von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, um ihn der „Kellerhauch ihrer Banalität, Berechnungsmentalität, Existenzangst und Geistesverödung“.Im Jahr 2011 geht es zur vorletzten Station in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Ironie dieser „Weltreise“: Eine Krise führt ihn wie einst in Stuttgart zur Psychoanalyse. „Ich begriff, dass ich in diesem Zimmer etwas lernen würde, um dessentwillen ich aus Deutschland für Jahrzehnte in die Welt hinausreisen und bis hierher in den fernen Kaukasus hatte kommen müssen“, schreibt Wackwitz. Was das ist, erfährt man in diesem sentimental-schönen Buch.
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