Zwar filmreif – die Filmrechte sollen auch bereits verkauft sein –, aber für die Aufarbeitung des größten Fälschungsskandals der letzten Jahrzehnte wollte sich Juan Moreno erkennbar vom Stil einer Spiegel-Story unterscheiden. Solche Stories sind durchchoreografiert, gleichen eher einem Roman als einem Protokoll, samt Geigen quasi: in den Relotius-Texten soll öfter ein Hund wie tot gelegen haben, für die Atmo sorgte oft ein Song. Nicht nur ist der Nimbus dieser Masche komplett verkratzt seit dem „System Relotius“, Moreno selbst war ja mit dem Kollegen, mit dem er zusammen an einer Reportage arbeitete, über dessen „Regieanweisungen“ in Konflikt geraten. Relotius, so stellt Moreno klar, sei nie ein Reporter gewesen, wenn Reporter schlicht auch heißt, sich mit Recherche herumzuschlagen. Unklar bleibt, wann er mit dem Lügen anfangen musste, weil die Recherche ausblieb. Der Rest war grob schon vor dem Buch bekannt: Durch seine Zusammenarbeit mit Relotius an der Reportage Jaegers Grenze über einen Flüchtlingstreck auf dem Weg in die USA, den er begleitete und einer Bürgerwehr, die Flüchtlinge aufhalten will, die Relotius nie getroffen hatte, deckte Moreno gegen große Widerstände den größten Presseskandal der letzten Jahre, möglicherweise Jahrzehnte auf, einen Skandal, der den ganzen Berufsstand in Verruf brachte, schlimmer als die Hitlertagebücher, größer als Tom Kummers Fake-Interviews mit Celebrities für das Süddeutsche Magzin.
Zu Beginn legt Moreno offen, aus welcher Warte er sein Buch schreibt. Es ist die Warte des Helden wider Willen, Relotius habe den deutschen Journalismus verändert und auch ihn, Moreno, selbst. Die Leichtigkeit, mit der er früher „Lügenpressekrakeeler belächelt“ habe, sei dahin. Warum wird einer Hochstapler? Da Relotius nicht durch Geltungssucht auffiel, sondern von den ehemaligen Kollegen als ruhiger, freundlicher Zeitgenosse erinnert wird, bleibt sein wahres Motiv einstweilen ein Rätsel, noch mehr, weil Relotius schweigt, wie auch sein Umfeld. In den Fokus rückt etwas anderes: Moreno war von seinen Vorgesetzten beim Spiegel massiv bei der Aufklärung behindert. Dieses Skandalon aufzuarbeiten, dürfte auch mit dem Buch nicht abgeschlossen sein. Interviewanfragen für das Buch, gibt der Autor an, liefen zum Teil über die Rechtsabteilung. Keine Steine im Weg also, aber auch kein ausgerollter Teppich. Moreno schreibt zudem noch für den Spiegel. Soviel zu seinem Interessenkonflikt, den er in Tausend Zeilen Lüge auf knapp 300 Seiten auch darlegt.
Chefs, die das deckten
Man erinnert sich vielleicht: Der erste Versuch einer Aufarbeitung des Skandals, geschah durch Relotius‘ ehemaligen Chef, den Leiter des Gesellschaftsressorts, Ullrich Fichtner, der hatte es in einem pathetischen Stil versucht, da waren die Fälschungen gerade erst aufgeflogen, so als müsste man die Geister von Relotius mit Relotius‘ Geist selbst vertreiben: Wir haben gesündigt, aber noch in der Sünde sind wir toller als andere. Eine Melodramatik auf dem Weg nach Canossa, der selbstzerfleischende Ton, der einen doch stark an die Masche selbst erinnerte. Nun kann man bei Moreno nachlesen, wie sehr Fichtner selbst, noch mehr allerdings dessen Kollege Matthias Geyer, die Aufklärung behindert haben. Beide standen kurz vorm Gipfel ihrer Karriere. Fichtner sollte Chefredakteur des Blatts werden, Geyer Blattmacher. Und auch für Relotius sollte die Zeit als Auslandsreporter enden, man wollte ihm das Gesellschaftsressort übertragen. Man stelle sich mal diese kontrafaktische Geschichte vor: Relotius wäre nie aufgeflogen, der Spiegel wäre... und keiner hätte sich zum Beispiel gewundert, dass es diese „Bravourstücke“ nicht auf Englisch zu lesen gibt (dass nie englische Versionen erschienen, dafür hatte Relotius immer gesorgt).
Das alles wusste Moreno zunächst nicht. Wusste nicht, ob er sich da verrannte. Er: Ein freier Reporter beim Spiegel, Mitte 40, verheiratet, vier Kinder, Kind andalusischer Auswanderer-Eltern. War er neidisch auf den jüngeren, preisgekrönten Überflieger in Festanstellung beim mächtigsten deutschen Medienhaus?„Er gehört zu den erfolgreichsten Reportern, die jemals diesen Beruf ausgeübt haben“. Für die Reportage Jaegers Grenze sollte Moreno also mit Relotius zusammenarbeiten. Moreno entdeckte Ungereimtheiten, störte sich noch mehr an den „Regienanweisungen“ des Kollegen, der den Text verantwortete. Wer da aufmuckte, wollte der nicht einfach neidgetrieben die Karriere eines Talents ruinieren, wie im Ressort insinuiert wurde?
Relotius schrieb um die 60 Texte für den Spiegel, eine Handvoll seiner Texte sind „sauber“, also faktisch richtig, er gewann über 40 Journalistenpreise, darunter mehrmals den damals noch renommierten Reporterpreis. Moreno legt dar, dass Relotius seinen Aufstieg „kühl exekutierte“, schließlich könne auch nur der viele Preise gewinnen, der sich für alle Preise bewirbt. Preise, so Moreno, sagten „in erster Linie etwas über den persönlichen Geschmack der Jury, den Zeitgeist und erst dann etwas über die Qualität der Texte“ aus. Relotius erfand Geschichten für den Zeitgeist, lieferte ohne eine wirkliche Haltung. Seine mit dem Reporterpreis ausgezeichnete Geschichte über den Jungen, der den Syrien-Krieg ausgelöst haben soll, war so eine Geschichte. Relotius hatte den Jungen ausfindig gemacht, den alle suchten, den Jungen, der mit einem Graffiti Assad beleidigt hatte. Schweizer Vorbehalte gegen Albaner bediente er mit einem Text über Blutfehden in Albanien für die Weltwoche. Dabei hatte die Reportage, beschreibt Moreno, den schnöden Nachrichtenjournalismus vor seinem Untergang retten sollten, die Königsdisziplin sollte das Gegengift gegen sinkende Auflagen sein, gegen kostenlosen Journalismus, fake news, den Vorwurf der „Lügenpresse“. Das ist eigentlich ein ehrenwertes Anliegen. Wie man diesem Anliegen gerecht werden kann, beweist Moreno mit dieser langen, in Buchform gegossenen Reportage selbst.
Info
Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus Juan Moreno Rowohlt 2019, 288 S., 18 €
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