Hetzjagd im Stehen

Provinz Jan Brandt schreibt in "Gegen die Welt" über den verdächtigen Jungen in der Kleinstadt. Nicht nur ein großartiger Roman. Brandt hat auch die ideale Erzählform erfunden

Eine Nummer kleiner ging es nicht: Fast Tausend Seiten lang ist Jan Brandts Debüt Gegen die Welt, und Jericho (!) heißt der Ort, den er in seinem beeindruckenden Provinzepos geschaffen hat. Fünf bis neun Jahre lang (je nach Quelle) hat der 1974 geborene Autor an diesem Buch geschrieben; bestimmt hat er sich überall und dauernd Notizen gemacht, so verrückt detailreich sind manche Passagen geraten in einer Mischung, die zwischen genial und spleenig schwankt.

Jericho sieht eigentlich aus wie eine stinknormale – westdeutsche – Kleinstadt in den Achtzigern, Neunzigern, vor allem aber wie die Heimatstadt des Autors, Leer in Ostfriesland. Allein aus eigener (Provinz-)Erfahrung sind einem die Stadt und deren Menschen vertraut, aber bald könnte man auch ohne Vorkenntnisse jedem Fragenden den Weg zu Superneemann, dem Supermarkt im Ort, erklären, zu Familie Mengs im Komponistenviertel, zur Drogerie Kuper. Präsent ist auch alles, was die achtziger, später die neunziger Jahre ausmachten: RAF-Fahndungsfotos, saurer Regen, Aliens, Weltuntergangstimmung, Dallas, Wiedervereinigung, Neonazis, Internet, man könnte die Liste so weiterführen. Brandt produziert ein Déjà-vu nach dem anderen, sogar Fahrzeugdetails funktionieren gut: Die Eltern von Daniel Kuper, dessen Geschichte erzählt wird, fahren einen Opel Rekord E 2.0S, Baujahr 1982, 100 PS.

Dass das biblische Jericho anklingt, kann man sich denken. Daniel Kuper ist zehn, als er in einem kreisrunden Maisfeld herumirrt – ohne Kleidung und ohne jegliche Erinnerung an das Erlebte. Was wirklich geschehen ist, dass ihn der Sohn des umtriebigen Bauunternehmers und Bürgermeisterkandidaten Rosing ins Feld gelockt hat, kommt nie offiziell ans Licht. Der Vorfall aber führt erst zu einer regelrechten Ufo-Hysterie im Ort, dann zur allgemeinen Überzeugung, der Junge habe alles nur inszeniert, sogar seine Verletzungen. Der Ufo-Junge ist verdächtig, wann immer einer etwas ausgefressen hat. Und eines Tages, man sitzt im Konfirmandenunterricht, Daniels Freund Volker Mengs faselt schon seit Wochen vom Fluch des Erstgeborenen, und man weiß nicht, ist das ernst gemeint oder witzig, kann auch Pfarrer Meinders mit Flüchen nicht an sich halten, nachdem Daniel ihn mit seinen Nachfragen zur Weißglut gebracht hat.

Bier, null Bock und Übermut

Schließlich sind auch Uwe Johnson und sein Buch Mutmaßungen über Jakob nicht etwa geheime Inspiration für den Roman, Johnson wird eher beiläufig erwähnt, sogar das echte Jerichow wird nach der Wende noch eine Nebenrolle spielen. Brandts Stil ist verspielt, er spielt mit Motiven, Perspektiven, ja, sein Roman ist ein Spiel mit der Literatur selbst. Ist Daniel einfach ein sehr kluger, rebellischer Junge, der zu viele Perry-Rhodan-Hefte gelesen hat? Einer von uns, die wir immer gegen die Wand wollten, wie seine Lehrerin sagt, und gefangen waren in der elenden Provinz, kein Fluchtweg in Sicht? Ist Rosing tatsächlich ein verkappter Nazi, der Textpassagen aus Mein Kampf für seine Reden verwendet? Leidet Daniel vielleicht an Epilepsie und ist deshalb anfällig für Verschwörungstheorien? Wer, wenn nicht Daniel, hat die Hakenkreuze an die Wände in Jericho gesprüht? Die ganze Stadt sieht ihm jedenfalls dabei zu, wie er die Schmierereien mühsam entfernen muss. Brandt nennt sie alle, mit Vor- und Nachnamen, eine Hetzjagd im Stehen, man bekommt Gänsehaut.


Irgendwie verflucht erscheint auch die Clique, zu der der ewige Außenseiter Daniel gehören will, doch nur durch diese eine schlimme Tat ist er wirklich mit ihnen verbunden. Ein Junge wird gequält. Wochen später ist er tot. Ein Selbstmord? Ob danach die Pubertät bei den Freunden mit voller Wucht zuschlägt, also Bier, null Bock, Haschisch und Lebensübermut oder das Schuldgefühl oder beides, bleibt unklar. Schreckliche Dinge werden passieren, es wird spannend, Brandt spielt auch mit dem Krimi, und die existenziellen Botschaften hat er in den langen Dialogen über Gott und die Welt und über Heavy Metal versteckt – selten war Literatur so nahe dran an der (Jungs)-Pubertät.

Gegen die Welt ist nicht nur ein großartiger Roman über die Jugend, Jan Brandt hat auch eine ideale Erzählform dafür erfunden. So werden nicht nur viele, viele Erzählstränge verfolgt, und manchmal sind es Ausflüge, denen man nur mit Widerwillen folgt, der Story vom illegalen Wettbüro zum Beispiel, das Daniels Vater eine Zeit lang betreibt. Parallel zum Hauptplot erzählt das Buch auch die Geschichte eines traumatisierten Lokomotivführers, die typografisch abgesetzt ist. Sein Sohn Tobias sitzt Hunderte Seiten später auch im Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Meinders. Wie wird sein Leben verlaufen? Brandt scheint fasziniert vom Schicksal. So hadert auch Daniel, ob nicht das Unglück mit diesem viel zu heißen Sommer kam. In einem unerklärlichen Affekt hatte er als Kind diesem dicklichen, nervigen Volker Mengs einen Hammer über den Kopf gezogen.

An manchen Stellen im Buch wird die Schrift blasser, auch das ist anstrengend zu lesen, die sich zuspitzende innere Verzweiflung von Daniel Kuper auf diese Art augenfällig, es verschwimmt dem Leser vor Augen.

Zu knifflige Fragen

Das legendäre Wissensquiz Riskant mit dem legendären Hans-Jürgen Bäumler ist Rückzug für den Jungen, dem nichts richtig gelingen soll. Erst fliegt der Begabte vom Gymnasium, dann endet das Realschulpraktikum beim ansässigen Regionalblatt im Desaster. Über Seiten wird eine ganze Riskant-Folge rekonstruiert: Man stellt sich diesen Jungen fast körperlich vor, wie er da sitzt in dieser Vorabendwelt, in der es noch Antworten gibt. Schließlich aber wird das Quiz sein Lebensspiel. Im doppelten Sinne ohnmächtig stellt Daniel die großen Fragen, die zu knifflig sind: „Womit lässt sich Glück messen?“ Nächste Seite: „Bleibt man sich nur treu, wenn man sich ändert?“ Nächste Seite: „Wie viele Möglichkeiten kann man vergeben, ohne die Hoffnung zu verlieren, eine wahrzunehmen?“, „Was ist das Leben?“, „Was ist Wut?“

Die Geschichte reicht bis ins Zeitalter von Facebook. Die Jugendfreunde aus Jericho, also die, die überlebt haben, begegnen sich hier als Erwachsene. Lakonische Jetztzeit: Simone, Daniels beste Freundin und heimliche große Liebe, heißt jetzt Rosing! Ihr aktueller Status: „puh, joris hat gerade puh gemacht.“ Und ausgerechnet Volker, der antiautoritär erzogene Sohn von Realschullehrer Mengs, wurde Pfarrer. Die Geschichte von Daniel Kuper hat er in Leitz-Ordnern archiviert. Der Roman endet mitten in einem großen Satz, gefolgt von sechs leeren Seiten. Eine Nummer kleiner ging es nicht.

„Was ist Literatur?“ lautete übrigens eine Quizfrage. Jan Brandt hat eine sehr selbstbewusste Antwort gegeben.


Gegen die WeltJan Brandt Dumont Buchverlag 2011, 927 S., 22,99 .

Katharina Schmitz schrieb auf den Literaturseiten des Freitag zuletzt über Peter Kurzeck

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