Schluss mit dem G8-Gemurkse

Bildung Bayern schafft das Turbogymnasium wieder ab. Nicht die einzige Schulreform seit Pisa, die Schüler zu Versuchskaninchen machte
Ausgabe 15/2017

Das Kind ist in den Brunnen gefallen, wie man so schön sagt, das Schulkind, um genau zu sein. Denn die überstürzte Verkürzung der Gymnasialzeit, das sogenannte G8, entpuppt sich, kurz gesagt, als Bockmist. Das Turbogymnasium war ein Schnellschuss, dem jeder pädagogische Vorlauf fehlte. Der Lehrplan des G9 wurde nicht reformiert, sondern einfach wie eine Ziehharmonika auf acht Jahre zusammengequetscht. Der Lernstoff der Abiturienten quoll dabei seitlich heraus und verwandelte sich zu Mehrarbeit auf dem Rücken der Schüler. Seitdem müssen Schüler einfach länger in der Schule bleiben. Und auch danach ist noch nicht Schluss. Sie müssen zu Hause, also nachmittags oder sogar bis in die tiefe Nacht hinein, büffeln – Hausaufgaben machen und teilweise Stoff mit ihren Eltern durchnehmen, der eigentlich Teil des Schulpensums ist. Das ist reines Bulimielernen. Auch die Eltern wurden mit der Einführung des G8 überrumpelt. Sie wurden nicht gefragt, ob sie das G8 gut finden. Daher gehen die Eltern auf die Barrikaden. Vor allem jene, die in der eigenen Familie erleben, wie viel und wie sinnlos ihre Kinder büffeln müssen. Sie müssen mitansehen, wie sehr die sture Paukerei und der Konkurrenzkampf ihre Töchter und Söhne veränderten.

Die G8-Murksreform reiht sich in viele der Bildungsreformen der letzten 15 Jahre seit dem großen Pisa-Schock ein. Keiner weiß, was sie gebracht haben. Aber sie sind nun einmal da, und es ist ja ein ganzer Wust an Reformen: die Vervielfältigung der Formen von Sekundarschulen von vier (Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Gesamtschule) auf rund 15: Gemeinschaftsschule, Sekundarschule, Regelschule, Stadtteilschule, Oberschule, ISS und so weiter Zu den Reformen gehören auch noch die Ganztagsschule, die flexible Anfangsphase, die frühe Einschulung, die Inklusion und, natürlich, das berühmte Turbogymnasium, die Verkürzung der Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre. Das Problem ist: Wenn eine Reform wie die des G8 sich als Flopp erweist, gelingt ihre Zurücknahme nie ohne neuen Ärger. Auf Deutsch: Man kann nicht vor die Reform zurück.

Rolle rückwärts

Das bedeutet: Das Image des Gymnasiums ganz allgemein lässt sich nicht so leicht wieder aufpolieren. Auch nicht mit bayerischem Hauruck. Edmund Stoiber führte das G8 vor knapp 15 Jahren in einer Nacht- und Nebelentscheidung ein. Und Horst Seehofer schafft es nun, ebenfalls über Nacht, wieder ab. Beide Male stellten die Ministerpräsidenten die gerade amtierenden bayerischen Schulminister praktisch kalt. Die Rückkehr zum G9-Abitur sei eine „historische Entscheidung“, heißt es nun. Aber: Was sollte das Ganze eigentlich?

Die Rückkehr zum G9 ist eine halswirbelgefährdende Rolle rückwärts in der bayerischen Landespolitik. Edmund Stoiber hatte seinerzeit die verkürzte Schulzeit damit begründet, man wolle „Kinder so gut wie möglich auf die Zukunft einstellen“. Das ist eine dieser Politiker-Null-Aussagen, die übrigens nicht nur aus CDU/CSU oder FDP kommen. Auch Berlin wollte sich etwa mit der umstrittenen Früheinschulung von Kindern mit fünf Jahren für die Zukunft rüsten. Noch mehr gebundene Ganztagsschulen sollten im ganzen Land dafür sorgen, dass Eltern und Kinder über die Woche ganz im Sinne des globalisierten Kapitalimus vollzeitbeschäftigt sind. Was als Vereinbarung von Familie und Beruf gedacht zu sein scheint, assoziiere ich eher mit schlecht gemachtem Sozialismus. Die Ganztagsschule hat nämlich einen Haken: Sie verschult das Leben der Kinder und Jugendlichen komplett. Es bleibt kaum mehr freie Zeit – und es bleibt vor allem keine Zeit mehr, um sich als Jugendlicher autonom sozial zu entwickeln: Die Ganztagsschule pädagogisiert große Teile der Freizeit von Jugendlichen. Eine feindliche Übernahme. Zu Recht beklagt der jüngste Kinder- und Jugendbericht, dass die junge Generation kaum noch Freiräume hat.

Zu meiner Schulzeit Ende der 1980er Jahre gab es schon eine Art „Binnendifferenzierung“, um einen Fachbegriff aus der Didaktik nicht ganz sachgerecht zu bemühen, damit ist gemeint, „individuellen Begabungen und Interessen einzelner Schüler in der Klasse gerecht zu werden“. Ich erinnere eine solche Binnendifferenzierung zuallererst unter den Bundesländern. Galt doch ein Abitur aus Bayern oder Baden-Württemberg schon damals als Oho. Wir in Rheinland-Pfalz gehörten dem Mittelfeld an. Einen verlotterten Ruf hatten traditionell Bremen und Berlin. Wenn man also ein Reifezeugnis aus Bundesland X vorzuweisen hatte, wurde man beim Abi-Schnitt von vielleicht 2,1 auf 3,0 inoffiziell abgestuft (Bremen!) oder, umgekehrt, hochgestuft (Bayern!).

Binnendifferenzierung konnte freilich auch zwischen zwei Gymnasien ein und derselben Kleinstadt stattfinden. Die Schüler in Wittlich zwischen Mosel und Trier wechselten öfter vom Cusanus-Gymnasium auf das Peter Wust, weil sie es „unten“ im Cusanus nicht packten. Das Wust lag oberhalb der Stadt, früher war ein Internat angeschlossen, die Anforderungen waren vergleichsweise läppisch. Das größte Ärgernis für die Autorin, die eine Realschule besuchte, war, dass ihr Notendurchschnitt von 2,3 in der 10. Klasse nicht ausreichend war, um am Gymnasium zu bestehen, auch am Wust nicht. Der Direktor hatte augenscheinlich den für diese Zeit klassischen Klassendünkel, er ließ mich vorsprechen. Ob ich mir das Gymnasium denn zutrauen würde? Meint, zugespitzt gesprochen: Wir Bauernkinder vom Land waren in den 1980er Jahren ähnlich benachteiligt wie ein türkisches Migrantenkind in, sagen wir: Dortmund. Die Integrationsleistung der Bayern liegt übrigens, Studien beweisen das, höher als bei den Bundesländern mit mehr integrativen Schulen.

An dieser Stelle kurz etwas über das sogenannte dreigliedrige Schulsystem, also die Sortierung der Schüler auf Hauptschule, Realschule, Gymnasium, Die Debatte wird hier genauso emotional und polarisiert geführt wie um das Turboabitur. Mit meinen persönlichen Erfahrungen müsste ich definitiv für Abschaffung sein. Stichwort: Zementierung von sozialer Selektion. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der sukzessive Umbau in zweigliedrige Schulsysteme – Gymnasium plus Gesamtschule – Chancengleichheit besser herstellen kann. Beweise gibt’s jedenfalls noch keine.

Ich finde, die alten Schulformen werden diskreditiert. Die Hauptschule zum Beispiel, die bei uns auf dem Land einmal als solide Kaderschmiede für Handwerksberufe galt. Oder die Sekundarschule, in Berlin oft ein Schreckgespenst für ehrgeizige Eltern, die fürchten, dass ihr Kind auf eine pluralistische Schülergesellschaft trifft, weniger euphemistisch gesagt: auf Kinder mit niedrigem sozialen Status, in den Bildungsstudien nennt man sie oft Kinder aus der unteren Dienstklasse.

Das neoliberale Kind

Ich kenne das Argument, dass in der Industrie 4.0 die Qualifikationanforderungen immer komplexer werden, zum Beispiel ist aus dem Automechaniker der Kfz-Mechatroniker geworden. Andererseits, wer vom Abitur spricht, egal ob G8 oder G9, muss die Abiturquote nicht vergessen: die Entwertung der Allgemeinen Hochschulreife. Die Abiturquote pendelt seit 2011 zwischen 53 und 59 (!) Prozent. Könnte es ein Fehler im Bildungssystem sein, wenn die Eintrittskarte selbst für kaufmännische Ausbildungsberufe längst das Abi-Zeugnis ist? Es herrscht ein Akademisierungswahn – der zu Lasten des Handwerks geht, nicht zu vergessen der Berufsschulen, einst eine solide Karrierestation. Einerseits.

Andererseits klagen die Universitäten, dass das Bildungsniveau heutiger Studenten und Studentinnen nicht gut ist. Hat das Niveau der Hochschulreife vielleicht etwas mit dem G8 oder G9 zu tun? Hat nicht die Inflation der Abiture genau mit jenem Doppeljahrgang an G8- und G9-Absolventen begonnen, die gleichzeitig Abitur machten? Genau so war es. Und der Abiturinflation, mit der massenhaften Einführung von Gesamt- und Gemeinschaftsschulen weiter angeheizt, folgte die Noteninflation nach. Die Bildungsrevolution entwertet ihre Aufsteiger. Nur so kann man erklären, dass mehr Abiture paradoxerweise in die Abstiegsgesellschaft münden.

Und es sind ja so viele Reformen, deren Zusammen- oder Gegeneinanderwirken nicht mehr dechiffrierbar ist. Permanenter Wandel der Didaktik, alles für die heterogene Schülerschaft und die globalisierte Wirtschaft. Das individualisiert beschulte Kind ist in Wahrheit ein neoliberal präpariertes Kind. Parallel nimmt der Bürokratieaufwand für Lehrer ständig zu. Schuld sollen freilich die Helikoptereltern sein, jene Eltern also, die der Schule nicht mehr trauen und ihren Nachwuchs unter verschärfte Beobachtung stellen. Wer kann es ihnen verdenken?

Deutsche Schulen stehen zu Recht im Verdacht der zu frühen Auslese, daran muss gearbeitet werden. Man fragt sich nur, warum ausgerechnet Bildungsexperten so oft die falschen Schlüsse aus den Missständen ziehen. Die Fans der Gemeinschaftsschulen propagieren immer noch das gemeinsame, individuelle, projektorientierte Lernen. Alle wollten vom Musterland Finnland abschauen, wo Kinder – angeblich – bis zur 9. Klasse so lernen. Nun rutscht der Klassenprimus im Ranking langsam ab. Der Lehrer als Lernbegleiter, der Schüler als sein eigener Projektmanager, das klingt nicht gut und funktioniert nicht immer. Man kann es so illustrieren: Begabte werden nach unten gezogen, mittelmäßige Schüler nicht genug gefördert – und die schlechten vergessen.

Die neuen Bundesländer sagen zu Recht, das G8 habe sich bewährt, aber der Fokus im Westen muss darauf liegen, ebenfalls das zu behalten, was sich bewährt hat. Aktionismus ist kein guter Reformanlass. Und Alarmismus kein guter Ratgeber. Seit Jahren mutiert die Schule zu einem Experimentierfeld, Kinder und Eltern sind Versuchskaninchen. Die Zeit meiner dreijährigen Oberstufe gehörte zur schönsten meines Lebens. Für mich war Schule nicht zuletzt auch ein Ort, Opposition zu üben, früher gegen die Welt da draußen. Heute gegen schulreformerisches Gemurkse.

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