Wenn ein Kritiker mit dem Thomas-Bernhard-Vergleich kommt, muss sich der gemeinte Autor für gewöhnlich warm anziehen. So erging es der Schriftstellerin Antonia Baum, deren radikales Debüt Vollkommen leblos, bestenfalls tot zwar das Feuilleton beeindruckte, zuvor aber beim letzten Bachmannpreis vor allem wegen der perfekten Bernhard-Imitation furios durchgefallen war.
Nun war Thomas Bernhard schon immer willkommenes „role model“ für den existentiell traurigen und zornigen Schriftsteller. Und nicht nur der Kritiker Hubert Winkels, der Antonia Baum zum Wettbewerb eingeladen hatte, fragt sich, ob man das Bernhardverfahren nicht zum, quasi von Bernhard selbst gelösten Muster erklären sollte, und jeder sich je nach Talent raffiniert, parodistisch, eigenwillig und immer auf eigene Gefahr darin austoben könne.
Der Schriftsteller Andreas Maier jedenfalls wäre unverdächtig, diese Balance nicht souverän zu meistern. Das war nicht immer so. Maier, der über Bernhard promovierte und in seiner Dissertation Die Verführung die Bernhardtexte einer kritischen, ja entweihenden Analyse unterzog, stellt sich ja paradoxerweise mit seiner Literatur in die Tradition von Thomas Bernhard. Beim spektakulären Erstling Wäldchestag zeigte sich das vor allem in der Schilderung der Ereignisse in ausschließlich indirekter Rede, bekanntlich eine Bernhard-Spezialität. Allein – Maier schrieb ohne Wut, in der Frankfurter Rundschau erfand man dafür den Begriff „komischer Konjunktiv“.
Immer noch Bad Nauheim
Wohl als Distanzierung gedacht, spielte die Provinzposse Klausen, Maiers zweiter Roman, dann in Südtirol, also für einmal nicht in Hessen. Ansonsten gilt: Was Thomas Bernhard sein verhasstes Österreich, ist dem Autor Andreas Maier seine geliebte Wetterau, ein Landstrich nördlich von Frankfurt, östlich des Taunus und südwestlich des Vogelsbergs. Im Kurort Bad Nauheim ist Maier aufgewachsen, der Vater arbeitete in leitender Stellung bei der Henninger Bräu, die Großeltern mütterlicherseits führten eine größere Steinmetzfirma, die später schließen musste, so wie auch andere Traditionsbetriebe in der Nachbarschaft. Maiers Österreich trägt den Titel Ortsumgehungsstraße, ein Romanzyklus, der auf elf Bände angelegt ist. Im vergangenen Jahr wurde bei Suhrkamp der erste Band Das Zimmer veröffentlicht und inzwischen ist der zweite Band Das Haus erschienen. Maier hat angekündigt, dass er nicht mehr schreiben wird, wenn der Zyklus sich geschlossen hat. Es handelt sich also buchstäblich um sein Lebenswerk.
„So geht die Welt langsam zu Grunde. Meine Heimat wird jetzt zu einer Ortsumgehungsstraße, unser Kurpark wird durch die Landesgartenschau vernichtet, niemand trinkt mehr Apfelwein, und ich sitze, mit neununddreißig offenbar schon vergreist und zum alten Eisen und zur alten Welt gehörend, irgendwo mitten im Nichts einer mir nicht mehr verständlichen Umgebung, durch die ich desorientiert tappe und die, wie zum Hohn, immer noch Bad Nauheim und immer noch Wetterau ist.“ In den Kolumnen, die er für das Österreicher Literaturmagazin Volltext geschrieben hat und die er auch auf seinen Lesungen vorträgt, kann man an solchen Stellen nachlesen, worum es Maier geht: „Die Vergangenheit war auch nie besser (…), aber man kann die Vergangenheit wunderbar gegen die Gegenwart verwenden.“
Zumutungen der Gegenwart
Maiers Technik für diese Obsession ist dabei die Bernhardsche Wiederholung. Immer wieder kreist er um die Wetterau, wie sie ist und wie sie einmal war. Das Elternhaus steht jetzt auf einem leeren Firmengelände, die Großeltern sind tot, der Kindheitspark von der berühmten Ortsumgehungsstraße zerschnitten, nur das Wirtshaus Winterstein steht noch, eins von den letzten Traditionshäusern, das nicht geschlossen hat, für den passionierten Stammtischler Maier eine von vielen Zumutungen der Gegenwart.
Schreibt Maier über seine Nächsten, wählt er den Konjunktiv. So hat er in Das Zimmer den geistig behinderten Onkel J, der im Grunde Maiers Alter Ego ist, nicht eigentlich fiktionalisiert. Maier hat sich überlegt, was sein geistig behinderter Onkel J getan, gefühlt, gedacht haben könnte, und diese Überlegungen zusammen mit dem Tatsächlichen montiert. In seinem neuen Roman Das Haus stellt er nun über sich selbst solche Vermutungen an. Was ging wohl im Kopf des Zweijährigen vor, als er von der Oma durch die Straßen von Bad Nauheim geschoben wurde? Wie haben ihn die Eindrücke beim Spaziergang durch den Park von Bad Nauheim wohl erreicht? Wie muss ihn das einstige Elternhaus, sein großes unheimliches Foyer beeindruckt haben oder die seltsame Treppe in den Keller Furcht eingeflößt.
Wie Onkel J
Maier beschreibt die Familie, den stoischen Bruder, die verzogene Schwester, die Eltern, beschreibt sie in ihrem modernen Haus, das wie eine Bühne funktioniert, auf der sie mit ihren Rollen verwachsen zu sein scheinen. Maier wertet nicht, stellt höchstens Mutmaßungen an. Ob etwa die Mutter mit diesem Leben glücklich war oder der stille Bruder unglücklich. Das Kind Maier nimmt die Familie über deren Tun wahr, anders haben wir als Kind unsere Umwelt ja auch nicht gesehen. Der Schriftsteller Maier zieht heute daraus seine Schlüsse.
Die Familie funktioniert innerhalb der Koordinaten Haus, Auto, Arbeit, Alltag, Versicherungen, Erfolg, Wochenende. Es ist eine Mittelstandsfamilie, wie sie im Buche steht. Nur der kleine Maier funktioniert nicht. Das Kind verweigert sich dem Kindergarten, das Kind kann nicht normal kommunizieren, es hat einen Horror vor der Schule. Wie sein Onkel J. steht der kleine Andreas immer „daneben“ und schaut zu oder fährt mit dem Fahrrad kreuz und quer durch die Straßen des Viertels. Und Andreas Maier suggeriert hier hinreißend, dass dieses Außenseitersein unbedingt auch von seltenem Glück ist. Das kann bei oberflächlicher Betrachtung zu Missverständnissen führen.
Es sei doch gut, wenn die Leute seine Literatur für etwas Gemütliches hielten, sagte ihm einmal ein Freund, und Maier schreibt: „Seitdem denke ich immer er wieder: etwas ganz Teuflisches machen, ohne dass es jemand merkt, dass man etwas Teuflisches macht, außer dem lieben Gott, und alle halten es für gemütlich und Heimatliteratur (…) wie Kurzeck, wie Stadler, wie ich. Wir, die Heimatautoren. Wir, die Idioten.“
Ehrliche Obsession
Gemütlich ist ja auch wirklich der falsche Begriff. Maier, dem – so steht es in den Kolumnen – Veränderungen nicht sehr willkommen sind, vermittelt dem Leser vielmehr eine trockene, zuweilen ironische Ratlosigkeit, eine stille und kluge Weltfremdheit, die der Schriftsteller sich bewahrt hat, vielleicht gerade, weil er zu Hause geblieben ist. Kurzum, Maier ist durch und durch ein Anti-Berlin-Autor. Und wenn er also demnächst in Hildesheim, Gießen, Breisgau, Sigmaringen oder Bingen liest, kommen die Zuhörer vielleicht auch aus Sentimentalität zum vermeintlichen Heimatdichter, ganz sicher haben sie aber auch diese (nicht etwa) resignierte Verlorenheit, die Maier transportiert, verstanden. Dafür muss man nicht in Berlin wohnen.
Andreas Maiers dritter Band aus dem Zyklus ist in Arbeit. Es beruhigt, zu hören, dass über den Erscheinungstermin bei Suhrkamp noch nichts bekannt ist. Schreiben muss doch Schicksal sein, man muss sich das Schreiben doch erarbeiten, um im literarischen Sinne aufrichtig sein zu können. Aber was heißt das schon. Der Leser hält ja auch die autobiografische Literatur fast immer für die ganze Wahrheit. Das macht ja die Maier-Literatur aus. Diese ehrliche Obsession.
Nur, ob das jetzt stimmt oder ob man jetzt etwas verwechselt hat, also, ob das Zimmer von Onkel J heute wirklich Maiers Arbeitszimmer ist, weil Maier doch laut Klappentext in Frankfurt wohnt, ist doch sehr unwichtig. Nur Maiers seinerzeit unerhörter Vorwurf an Thomas Bernhard sollte ihn keinesfalls treffen, den der Selbststilisierung, und er tut es auch nicht: „Damals kannte ich noch keine Vogelstimmen (...) ich lernte die Stimmen erst, als das Zimmer, das Haus und die Welt, auf die hin es sich öffnete, verloren waren, wie auch das Geräusch der Usa, das mein Lebensgeräusch war.“
Das HausAndreas Maier Suhrkamp 2011, 164 S., 17,95
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